Eine Heimkehr in Feindesland

■ Die Auflösung der Flüchtlingslager im Südwesten Ruandas verläuft chaotisch: Die Menschen haben Angst vor der Armee, die internationalen Hilfsorganisationen haben keinen Überblick.

Eine Heimkehr in Feindesland

In einer langen schnurgeraden Reihe, eng aneinandergepreßt, warten die letzten paar hundert Flüchtlinge im Stadion der südruandischen Stadt Butare auf den Abtransport. Ausdruckslos starren die meisten vor sich hin, Plastikkanister mit ein wenig Wasser in den Händen – für viele ihr letzter Besitz. Barfuß und in Lumpen gehüllt, verschmelzen alte Männer, Frauen mit Babys auf dem Rücken und Kinder zu einer grauen Masse von Elendsgestalten.

Mit einem Knüppel in der Hand marschiert ein Soldat die Reihe entlang, mit Drohgebärden und lauten Kommandos erzwingt er die exakte Ausrichtung der Linie. Die Flüchtlinge gehorchen stumm und korrigieren ihre Standorte: mal zwei Zentimeter nach rechts, mal drei Zentimeter nach links.

Inzwischen ist das Stadion leer. In verschiedenen Hilfszentren internationaler Organisationen in Butare sind jedoch noch immer Tausende ehemaliger Insassen des Lagers Kibeho zusammengepfercht. Die meisten sind mit Bussen des UNO-Flüchtlingswerkes UNHCR hierhergebracht worden, nachdem das ruandische Militär das Camp am Wochenende gewaltsam aufgelöst hatte – eine Operation, die nach UN-Schätzungen etwa 2.000 Menschenleben gefordert hat. Was sich im einzelnen abgespielt hat, läßt sich wohl nie mehr klären – die Leichen wurden schnell begraben.

Die Soldaten sind nervös. Eine Reporterin wird eingekreist und massiv bedrängt, weil ein kleiner Junge im Stadion ihr angeblich einen Zettel zugesteckt haben soll. Was fürchten die Militärs, das darauf hätte stehen können? Ein Kameramann wird mit Verhaftung bedroht, wenn er nicht aufhört, die Flüchtlinge zu filmen. Mit Hinweisen auf erforderliche Sondergenehmigungen, die es nicht gibt, werden in Kibeho Berichterstatter daran gehindert, das Lager zu betreten, in dem sich nach Schätzungen des Internationalen Roten Kreuzes noch rund 2.000 Flüchtlinge verschanzt haben. Seit Tagen haben sie weder Wasser noch Nahrung erhalten, seit Tagen wird über ihr Schicksal verhandelt. Die ruandische Regierung ist überzeugt, daß sich unter ihnen hartgesottene Milizionäre befinden, die viele Morde auf dem Gewissen haben und die letzten Zivilisten in Kibeho gewaltsam am Verlassen des Lagers hindern, um sie als menschliche Schutzschilde zu mißbrauchen.

Vertreter internationaler Organisationen befürchteten gestern einen neuerlichen Angriff des ruandischen Militärs auf das Camp und versuchten verzweifelt, die Flüchtlinge zum Aufgeben zu bewegen. Aber wären sie beim Verlassen des Lagers geschützt? Diejenigen, die bereits in Butare sind, haben einen Spießrutenlauf hinter sich. Sie wurden unterwegs von der aufgebrachten Bevölkerung und von Soldaten mit Stöcken geschlagen, mit Steinen beworfen, angespuckt und beschimpft.

„Wir haben in den letzten drei Tagen etwa 600 Verwundete behandelt“, sagt in einem der Auffangzentren in Butare Bethan Moskov von der „Internationalen Aktion gegen den Hunger“, die Verletzte medizinisch betreut. „30 bis 40 Prozent sind unterwegs verwundet worden.“ Eine Frau hat eine Machetenwunde am Kopf davongetragen, einer anderen ist mit einem Stock auf das rechte Auge geschlagen worden. „Dieser kleine Junge wird wahrscheinlich sterben. Er ist unterernährt“, erklärt Bethan Moskov und zeigt auf ein etwa dreijähriges Kind. Es sitzt neben seiner Mutter und trinkt aus einem Becher mit Nährstoffen angereicherter Milch. Was er bräuchte, wären zwei Monate Pflege im Krankenhaus. „Aber wir können ihn nicht behalten. Die Militärs kommen auch hierher und holen die Leute aus dem Krankenzelt, um sie auf die Lastwagen zu setzen. Und in ihren Heimatgemeinden gibt es nichts.“

Lang aufgestaute Wünsche nach Vergeltung machen sich hier in diesen Tagen Luft. Es ist erst ein Jahr her, daß radikale Hutu-Milizen in Ruanda einen Völkermord an der Tutsi-Minderheit und an ihren politischen Gegnern unter den Hutu begingen. Noch immer befinden sich die meisten Hauptverantwortlichen im sicheren ausländischen Exil, noch immer ist fast niemand in Ruanda vor Gericht gestellt worden – es fehlt an Richtern, Polizisten, Gebäuden und Geld. Unter den Überlebenden wächst die Bitterkeit und das Gefühl, im Ausland sei der Völkermord bereits vergessen worden.

Auch für diejenigen, die den Mördern damals entkamen, wird das Leben nie mehr so sein wie früher. Wer überlebt hat, trauert. Butares Bürgermeister Samuel Gasana hat fünf seiner sieben Kinder und sein einziges Enkelkind bei den Massakern verloren. „Sie sind von Nachbarn ermordet worden“, erzählt er. „Ich habe nicht einmal den Wunsch nach Rache. Ich will sie nur einmal fragen können, warum sie das getan haben. Wir hatten nie Probleme miteinander.“

In den Flüchtlingslagern im Südwesten Ruandas, die im Laufe der französischen Militärintervention im Sommer letzten Jahres eingerichtet worden waren, lebten zuletzt um die 200.000 Menschen – darunter auch nach Ansicht internationaler Beobachter solche, die Morde begangen hatten. Daß sie vom Ausland versorgt wurden, gab vielen Überlebenden der Massaker den Eindruck, daß Milizen sich dem Zugriff der Justiz mit ausländischer Hilfe entziehen konnten. Die Auflösung der Lager war von der ruandischen Regierung mehrfach angekündigt worden. Denn der von der UNO, nichtstaatlichen Organisationen und der Regierung im letzten Jahr gemeinsam erarbeitete Plan zur Rückführung der Lagerinsassen war nur schleppend umgesetzt worden. Die meisten Flüchtlinge hatten sich geweigert, nach Hause zurückzukehren; die UNO betonte ihrerseits, vor der Rückkehr müßten in den Heimatdörfern erst Wasserversorgung, medizinische Betreuung und der Aufbau einer lokalen Verwaltung gesichert sein.

Nach dem Sturmangriff auf Kibeho war von all dem keine Rede mehr: Zu Hunderten stellte das UNHCR Busse bereit und ließ sogar zu, daß einheimische Soldaten – auf UNO-Fahrzeugen sonst weltweit unerwünscht – als Begleitpersonal mitfahren. „Natürlich war es ein großes Problem für uns, ob wir uns nicht zu Komplizen der ganzen Operation machen würden“, erklärt Alessandro Bolzini vom UNHCR in Butare. „Unser Hauptquartier in Genf hat erst einmal alle Aktionen gestoppt. Aber nach 24 Stunden wurde uns klar, daß wir die Leute so schnell wie möglich aus den Lagern bringen mußten, weil ihnen dort nicht mehr geholfen werden konnte.“

Nun sind Fakten geschaffen, die den ausländischen Organisationen nach Ansicht der meisten ihrer Vertreter keine Wahl mehr ließen, als das Spiel mitzuspielen. Es habe keinerlei Hinweise seitens der Regierung auf die bevorstehende Militäraktion gegeben, empörten sich in den letzten Tagen mehrfach UNO-Sprecher.

Diese Darstellung bleibt jedoch nicht unwidersprochen: „Ich habe ebenso wie Vertreter anderer Organisationen an einer Konferenz teilgenommen, auf der die Regierung angekündigt hat, daß sie mit der Räumung der Camps am Ostersonntag beginnen wolle“, erklärt Paul Howard, immerhin der ranghöchste Repräsentant der zwischen UNO und Hilfsorganisationen koordinierten geplanten Rückführaktion. „Die internationalen Organisationen beschlossen einfach, in ihrem eigenen langsamen Tempo weiterzumachen.“