Geschichtshäuser zum Blättern

■ Brandenburger Lokalgeschichte von 1945 ist noch weitgehend verdrängt und unergründet / Neues Projekt will den Forschergeist von Jugendlichen anregen

Hilde Schramm freut sich: „Das Projekt wächst und wächst.“ Die ehemalige AL-Abgeordnete engagiert sich schon seit längerem in der „Regionalen Arbeitsstelle für Ausländerfragen“ (RAA) in Potsdam, und dort entstand vor rund einem Jahr die Idee zu dem nunmehr immer größer werdenden Projekt „Lokalhistorische Studien zu 1945 im Land Brandenburg“. Zuerst, als sie zusammen mit ihren Kolleginnen Rimma Maximowa und Evelyn Rink nur Fortbildungsveranstaltungen für LehrerInnen anbot, um lokale Recherchen anzuregen, war das Interesse mäßig. Aber seit die Frauen – unterstützt vom Brandenburger Bildungsministerium, der Robert- Bosch-Stiftung und der Landeszentrale für politische Bildung – eine „Geschichte zum Anfassen“ konzipiert haben, ist die Resonanz positiv bis begeistert.

In Kooperation mit Rita Weber, Thomas Hahn und Cynthia Brenken vom Pädagogischen Museum in Berlin entstanden für den Einsatz in Schulen und Jugendklubs fünf Geschichtsbilderbücher aus Pappe, jeweils in der Größe einer halben Schreibtischplatte. Ihren Umriß gestaltete die Bühnenbildnerin Olga Lunow als Silhouetten ganzer oder halbzerbombter Häuser. Eine Gruppe von vier bis sechs SchülerInnen kann diese Häuser gemeinsam erforschen, indem sie wie bei einem Adventskalender in die Fenster und Türen mit verschiedenen Motiven schaut oder die Seiten aufklappt. Dort finden sich, liebevoll durchdacht bis ins Detail, Fotos und Dokumente zu den Themen „Kriegsende“, „Schule in Trümmern“, „Überleben“ und „Flüchtlingswege“.

Mal kleben Briefumschläge in den Geschichtshäusern, in denen Frontbriefe von deutschen oder russischen Soldaten versteckt sind, mal findet sich eine aufklappbare „Randgeschichte“ über das Schicksal des 16jährigen Mädchens Sibylle oder lassen sich die Witze von damals nachlesen: „,Hallo, ist dort Müller?‘ – ,Nein, Schmidt.‘ – ,Entschuldigen Sie, ich habe wohl falsch gewählt.‘ – ,Bitte, das haben wir doch alle.‘“ – „Hier wird sehr bewußt nicht das Schlimmste aus dieser Zeit präsentiert“, sagt Hilde Schramm. Die Jugendlichen sollen nicht verschreckt, sondern neugierig gemacht und motiviert werden, eigene Recherchen anzustellen.

Tatsächlich sind dadurch schon eine ganze Reihe Lokalstudien angeregt worden. Deren Ergebnisse sollen im Herbst in einer Wanderausstellung und einer Publikation zur Lokalgeschichte Brandenburgs präsentiert werden.

Besonders angetan seien die Jugendlichen davon, so berichten ihre LehrerInnen, daß sie Bezüge zu sich selbst herstellen können – zu ihrer Stadt, ihrer Umgebung, ihrer Schule. Das ist neu, denn zu DDR-Zeiten war Lokalhistorie, die gefährliche persönliche Verwicklungen hätte aufdecken können, so gut wie tabu. Die Ereignisse von 1945 wurden in den Schulen als monolithische Geschichte der Befreiung abgehandelt. Daß diese objektive Befreiung einherging mit subjektiv erlebter Vergewaltigung, Ausraubung und Vertreibung, erzählten die Großeltern höchstens privat. „Dieser offiziell unterdrückte Teil der Geschichte bricht jetzt nach der Wende hervor“, schreibt Hilde Schramm in einem Bericht über ihr Projekt. Damit wachse aber auch die Gefahr, daß die Menschen sich einseitig als Opfer sähen, alle Schuld anderen zuwiesen oder sogar rechtsradikale Gesinnung entwickelten.

Die quasi natürliche Mehrdimensionalität von Lokalgeschichte, in der sich die großen politischen Entwicklungen in persönlichen Erfahrungen brechen, ist hier ein bestens geeignetes Gegenmittel. Wer sich also für das Projekt interessiert, möge sich an die RAA Potsdam wenden, Telefon: 0331-71 01 10. Ute Scheub