Unis, Chaos etc.
: Fast zwangs- psychiatrisiert

■ Brachialmethoden an der Tübinger Universität gegen einen Professor

Obwohl ihm der Dekan der Fakultät für Chemie und Pharmazie im Oktober 1994 das Vorlesungsrecht entzogen hatte, machte der Professor weiter, noch 14mal. Vor einer kleinen Schar von Studentinnen und Studenten las er auf dem Flur gegenüber dem Hörsaal N4 der Universität Tübingen, unter den argwöhnischen Blicken mehrerer Beamter in Zivil.

An die Tafel hatte der renommierte Chaosforscher Otto E. Rössler einen Zettel mit der Aufschrift „Freie Universität Tübingen“ geheftet – seine Art, gegen eine Lehranweisung zu protestieren, die er in ihrem Geiste für „totalitär und unwürdig“ hielt. Das war im Oktober 1994, und damit setzte sich ein Konflikt zwischen dem Professor und der Universitätsleitung fort, der im Sommersemester 1994 begonnen hatte.

Damals hatte Rössler am Institut eine Einführungsvorlesung für Chemie halten sollen. Der Wissenschaftler weigerte sich, weil er nach eigener Einschätzung von Chemie nicht genug verstehe. Daraufhin wurde ihm eine Disziplinarstrafe von 1.000 Mark auferlegt.

Von Haus aus promovierter Mediziner, in theoretischer Biochemie habilitiert und einer der ersten deutschen Chaosforscher mit internationalem Ruf, trat er schließlich im Wintersemester 1994/95 die Einführungsvorlesung „Allgemeine Chemie für Mediziner und Zahnmediziner“ an – und erklärte den StudentInnen gleich in der ersten Stunde, daß er zwangsverpflichtet sei und sich fühle wie „ein Metzger, den der Staat gegen seinen Willen zum Chirurgen gemacht hat“.

Die verärgerte Universitätsleitung verhängte darauf ein Lehr- und Hausverbot und ließ Rössler dreimal von Polizeibeamten aus dem Hörsaal tragen. Denn der Professor kam trotz des Verbots immer wieder und platzte in den Unterricht seines Nachfolgers. Ohne Verständnis für diese Form des Protests ordnete Baden-Württembergs Wissenschaftsminister Klaus von Trotha im März 1995 eine psychiatrische Untersuchung des Professors an. Im Ministerium war man der Meinung, daß Rössler „aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage ist, seine Dienstpflichten zu erfüllen“.

Protest formierte sich. Vor zwei Tagen nun zog das Ministerium für Wissenschaft und Forschung Baden-Württemberg die angeordnete Zwangspsychiatrisierung plötzlich zurück – just an dem Tag, an dem sich Rössler mit namhaften Persönlichkeiten aus dem Kunstbetrieb am Frankfurter Städel zu einem Pressegespräch traf. Peter Weibel (Hochschule für Angewandte Kunst, Wien), Kasper König (Rektor des Städel), Siegfried Zielinski und Nils Röller (Kunsthochschule für Medien, Köln) und Michael Klein (Direktor des Instituts für Neue Medien, Frankfurt) hatten sich bereits Anfang April mit ihrem Kollegen solidarisiert und über Internet einen Hilferuf rund um den Globus geschickt.

Binnen zwei Tagen hatten 200 Wissenschaftler aus der ganzen Welt den Aufruf unterschrieben. Entsetzt nahmen sie zur Kenntnis, daß das Land Baden-Württemberg Rössler „mit Gewalt zu einer psychiatrischen Untersuchung zwingen will“. Fazit der Kollegen: „Uns im Ausland sind diese angedrohten Gewaltmaßnahmen absolut unbegreiflich.“

Gerade im Ausland interessiert man sich für die Forschungsarbeiten Rösslers, der eng mit amerikanischen Wissenschaftlern zusammenarbeitet und häufig in den USA publiziert. Ab März sollte er einen Lehrauftrag am Santa-Fe-Institut in New Mexico wahrnehmen. „Das ist noch nicht der Nobelpreis, aber ein Zeichen großer Anerkennung“, umschreibt Michael Klein das Renommee des Instituts. Die Universität Tübingen verweigerte Rössler wegen laufender Disziplinarverfahren aber die Abreise.

Für eine Kunstszene, die sich mit Neuen Medien, Cyberspace und Virtuellen Realitäten befaßt, ist Rössler ein „Computerrevolutionär, der Kunst und Naturwissenschaft zu verknüpfen weiß“, meint Nils Röller. Peter Weibel sieht in „der psychiatrischen Lösung eines akademischen Konflikts“ eine Verletzung der demokratischen Verfassung, die die uneingeschränkte Freiheit von Lehre und Forschung garantiert. Und Kasper König beschreibt Rössler als Opfer einer Massenuniversität, die in einem gesteigerten Effektivismus immer mehr einem Managerbetrieb zu gleichen drohe.

Seit Januar 1995 steht jedem Dekan in Baden-Württemberg „ein Aufsichts- und Weisungsrecht“ zu, Lehrbeauftragte flexibel, in gewisser Weise „fachfremd“ einzusetzen. Genau dem wollte sich Otto E. Rössler nicht beugen. Christine Peters