■ Zum Aufruf vor allem französischer Intellektueller, wegen des Tschetschenien-Krieges nicht nach Moskau zu fahren
: Kohl muß trotzdem hin

Auf moralisch begründete Forderungen von Intellektuellen hat Helmut Kohl noch nie gehört. Im Fall des von André Glucksmann initiierten Aufrufs, die Feier des 50. Jahrestags des Kriegsendes in Moskau zu boykottieren, wird diese Hartherzigkeit einmal nicht schaden. Zwar ist die Forderung der französischen und deutschen Unterzeichner richtig: Der Protest gegen den Krieg der russischen Armee in Tschetschenien ist viel zu leise. Aber der deutsche Regierungschef kann nicht ausgerechnet die Feiern des 9. Mai in Moskau boykottieren, um von der russischen Regierung die Einhaltung der Menschenrechte zu verlangen.

Kein Zweifel: Moskau macht mit Geschichte Politik. Militär und Regierung werden den 9. Mai nutzen, um durch die Erinnerung an vergangene militärische Größe die Verantwortung für die gegenwärtige Misere zu verschleiern. Sie werden eine „Dolchstoßlegende“ verbreiten, bei der den Reformern der vergangenen Jahre die Rolle der Bösewichte zukommt. Auch der in zynischer Berechnung während der Festtage verfügte Waffenstillstand wird nicht darüber hinwegtäuschen, daß Tschetschenien in der Strategie russischer Großmachtpolitiker nicht nur ein Fehltritt war, sondern „der von der Kriegspartei geplante Schlußstrich unter einen europazentrierten Systemwandel“ (Die Zeit).

Vor diesem Hintergrund muß jeder westliche Staatschef überlegen, ob er Rußland ausschließen, durch Wohlverhalten und Entgegenkommen binden oder mit einer Mischung von Kritik und Angeboten beeinflussen will. Jeder andere westliche Politiker könnte ausgerechnet den 9. Mai wählen, wenn er sich nicht für eine Inszenierung mißbrauchen lassen und ein Zeichen gegen den Tschetschenien-Krieg setzen wollte. Kohl darf das nicht.

Wer in der Diskussion um das Kriegsende in Deutschland von Befreiung spricht, muß sich darüber freuen, daß ein Bundeskanzler in Moskau an der Feier der Sieger über den Nationalsozialismus teilnimmt. Es war nur möglich als Ergebnis eines langen Lernprozesses. Die Wirkung einer Absage wäre dagegen verheerend: Die „Kriegspartei“ in Moskau würde den alten Feind Deutschland wiederaufstehen lassen. Zu Hause aber würde die Partei der Aufrechner applaudieren, weil sie die eigenen Väter entlastet sähe.

Die Pflicht zur Anklage von Menschenrechtsverletzungen wird durch die Belastung der eigenen Geschichte nicht aufgehoben. Aber nur wenige deutsche Idealisten kommen auf die Idee, etwa bei ihrem Einsatz für die Palästinenser in Israel und den besetzten Gebieten nicht an den Holocaust und die Wirkung ausgerechnet deutscher Kritik in Israel zu denken. Wer als Deutscher die russische Regierung am 9. Mai für den „Völkermord“ in Grosny kritisiert oder – wie in dem Aufruf – von „extermination“ (Auslöschung) spricht, setzt sich zumindest dem Mißverständnis aus, er wolle Ungleiches vergleichen. Von den 50 Millionen Toten eines Krieges, den Deutschland angezettelt hatte, waren die Hälfte Russen.

Kohl muß nach Moskau fahren. Nur dort kann er nach der Siegesfeier beweisen, daß er die Verpflichtung der eigenen Geschichte ernst nimmt: durch ein demonstratives Treffen mit den russischen Kritikern des Tschetschenien-Krieges und den Moskauer Menschenrechtsgruppen. Hans Monath