Der Weg zur amerikanischen Staatsbürgerschaft

■ Fidencio Gaillardo gibt „Einbürgerungskurse“ in Los Angeles. Ein Porträt

Fidencio Gaillardo weiß, wie man Amerikaner wird. Jeden Dienstag und Donnerstag bringt er es rund 40 Aspiranten in Abendkursen bei. In der „South Gate Middle School“, wo tagsüber Teenager mehr oder weniger aufmerksam Mathematik, Geschichte oder Geographie pauken, sitzen am Abend Familienväter aus Mexiko, Großmütter aus El Salvador, Studenten aus Kolumbien oder Farmarbeiter aus Guatemala – als Schüler einer „citizenship class“, wie sie in Los Angeles von gemeinnützigen Organisationen und lokalen Schulbezirken angeboten werden. Sie repetieren die wichtigsten Jahreszahlen der US-Geschichte, büffeln die Namen der 50 Bundesstaaten und die der berühmtesten Präsidenten und erproben ihre Englischkenntnisse an der Unabhängigkeitserklärung.

Dann, nach ein paar Monaten, kommt die Generalprobe. Fidencio Gaillardo holt ein paar seiner Freunde zusammen, verordnet ihnen Anzug, Krawatte und einen strengen Gesichtsaudruck – und läßt sie in seinem „Einbürgerungskurs“ als Vertreter der Einwanderungsbehörde auftreten. Wer den Test gut übersteht und außerdem fünf Jahre legalen Aufenthalt nachweisen kann, auf den wartet der Ernstfall: Das „Bewerbungsgespräch“ mit einem Beamten des „Immigration and Naturalization Service“ (INS) im Bundesgebäude von Downtown-Los-Angeles. Geht die Prüfung schief, muß Fidencio beim nächsten Kursabend Tränen trocknen und in manchen Fällen erhitzte Gemüter von allzu groben Schimpfkanonaden gegen die vermeintlich ethnisch bedingte Hartherzigkeit des Prüfers abhalten. „Wenn der INS-Bemate ein Afroamerikaner war, dann schimpfen sie auf die Schwarzen, die angeblich Rassisten sind. War es ein Anglo, dann sind alle Gringos miese Kerle. War's ein Latino, dann heißt es: ,Das sind die Schlimmsten. Die knallen ihren eigenen Brüder und Schwestern die Tür vor der Nase zu.‘“ Wenn Fidencio dann laut und deutlich widerspricht, wird das akzeptiert – obwohl er mit seinen 27 Jahren jünger ist als viele seiner Abendschüler und mit einer Körperlänge von 1,65 und einem Jungengesicht auch als Zwölftklässler durchgehen könnte.

Geht die Prüfung gut, gibt es eine spontane Fete – und oft noch einmal Tränen, wenn der Tag der Vereidigung als US-Staatsbürger naht. Fidencios Mutter, die sich endlich vor fünf Jahren hatte einbürgern lassen, mußte ihren Eid ausgerechnet am 16. September ablegen – dem mexikanischen Unabhängigkeitstag. „Das“, sagt er, „tat ganz schön weh.“

Fidencio Gaillardo selbst mußte solche Hürden nie überspringen. Der Sohn von Immigranten aus der zentralmexikanischen Provinz Guanajuato ist in den USA geboren – und damit automatisch US- amerikanischer Staatsbürger. Was keineswegs bedeutet, daß er damit seine Identität hinreichend beschrieben sieht. Aufgewachsen ist er in der klassischen Doppelwelt von Einwandererkindern. „Total amerikanisch in der Schule, total mexikanisch zu Hause.“ Der Vater, ein ehemaliger Farmarbeiter, konnte sich auf Englisch verständigen, für die Mutter, eine Hausfrau, wurden Fidencio und seine drei Geschwister zu Dolmetschern.

Noch zu College-Zeiten hätte er auf die Frage nach seiner Staatsangehörigkeit trotzig „Mexikaner“ geantwortet – US-Paß hin oder her. „Viele meiner Freunde reden heute noch so“, sagt er achselzuckend – als könne er es zwar emotional verstehen, aber nicht mehr rational erklären. Frage man sie, wo sie leben, dann sagen sie: „Im amerikanisch besetzten Mexiko“ – eine Anspielung darauf, daß Kalifornien erst nach der Niederlage Mexikos im amerikanisch-mexikanischen Krieg 1848 in US-Besitz überging.

Fragt man Fidencio heute, mit welchem Identitätsetikett er einverstanden ist, dann reagiert er ratlos. „Amerikaner“ will ihm immer noch nicht über die Lippen kommen; das Wort „Hispanic“ mag er nicht, weil es „von den Anglos erfunden“ worden und völlig diffus sei; mit dem politisch besetzten Begriff des „Latino“ kann er leben – ebenso mit der Bindestrich-Identität des „Mexican-American“. Dabei bedeutet die Suche nach einem passenden Label keineswegs, daß er sich wurzellos fühlt. Am zutreffendsten beschreibt man ihn wohl als „Brückenbauer“. Also einer aus der jungen Generation der „Mexican-Americans“, die in den USA geboren und mit der politischen Sicherheit der amerikanischen Staatsbürgerschaft aufgewachsen ist, beide Sprachen fließend beherrscht, mit beiden Kulturen vertraut ist und entweder aus eigener Anstregung oder dank des sozialen Aufstiegs der Eltern ein College besucht haben. Los Angeles ist die Stadt, in der er sich zu Hause fühlt. An die „Southgate Middle School“, die er einst selbst besucht hat, ist er als Lehrer zurückgekehrt – tagsüber unterrichtet er Geschichte und Geographie und führt Neuankömmlinge, darunter viele Flüchtlingskinder aus Zentralamerika, in das amerikanische Schulsystem ein.

Abends lehrt er deren Eltern und Großeltern die Kunst, ein US- Bürger zu werden. Womit einer wie Fidencio noch keineswegs ausgelastet ist. In typisch US-amerikanischer Manier jongliert er einen dritten Job: Montag, Mittwoch und Samstag abends gibt er Aerobics- kurse – hauptsächlich für chinesische Immigranten. Andrea Böhm