Immer kurz vor der Explosion

Radikaler, unendlich verzweifelter und einfach besser als Brecht: Der Pulp Fiktionär Franz Jung. Die Freien Kammerspiele Magdeburg und das Landestheater Tübingen erarbeiteten ein Theaterspektakel  ■ Von Peter Laudenbach

Der Mann dürfte eine der schillerndsten Gestalten der deutschen Literatur wie der linksradikalen Szene der zwanziger Jahre sein: Franz Jung, 1888 bis 1963. Sein literarisches Werk ist spröde, oft unzugänglich und nicht frei von Pathos und Bitterkeit. Er wurde gründlich vergessen und geistert doch als eine seltsame Legende durch die Erinnerungen seiner Zeitgenossen: eher ein geheimnisvoller Revolteur als ein anerkannter Schriftsteller, ein Mann, der gleichzeitig bei den Berliner Dadaisten und dem linksradikalen Flügel der frisch gegründeten KPD eine zentrale Rolle spielte. George Grosz beschreibt ihn als „kühne, vor nichts zurückschreckende Abenteurernatur“, ein Desperado, der, wenn er betrunken war, in den Berliner Kneipen der zwanziger Jahre mit einem Revolver um sich schoß. Else Lasker-Schüler setzt ihm in ihrem Roman „Der Malik“ ein liebevolles Denkmal: „Verschlossene Himmel hinter schweren Lidern sind seine Augen.“ Oskar Maria Graf beschreibt Jung als einen „scheinbar schon längst mit sich und der Welt zerfallenen, schnell gealterten Mann: Äußerlich verschlampt, versoffen und haltlos, innerlich zerfressen ...“ Bohemia rules ok! Und doch erinnert sich Graf in seiner Autobiographie voller Zuneigung an den „Menschen, der mir einst im Suff jede Illusion radikal und für immer zerstörte“. Keine Frage: Franz Jung scheint auf seine Umgebung gleichermaßen faszinierend wie erschreckend gewirkt zu haben.

Daß Faszination wie Ratlosigkeit angesichts dieses Radikalen bis heute anhalten, demonstriert ein Franz-Jung-Projekt zweier kleiner Theater. Die Freien Kammerspiele Magdeburg und das Landestheater Tübingen versuchen in einem gemeinsamen Kraftakt, Jungs Geheimnis zu lüften: Sie wollen den kaum gespielten Dramatiker für die Bühne entdecken, fast identifikatorisch nähern sie sich dem exemplarischen Außenseiter. Nicht weniger als drei Uraufführungen von Jung-Stücken aus den zwanziger Jahren, zwei Inszenierungen anderer Stücke, zwei Tanztheaterprojekte, zwei Revue- Collagen und eine szenische Lesung zeigt ein Jung-Spektakel, das letzte Woche in Magdeburg zu sehen war und Ende dieser Woche in Tübingen die Schwaben schocken wird.

Es ist nicht der erste Versuch, Jung neu für die Bühne zu entdecken: „Heimweh“, eines der in Magdeburg gezeigten Stücke, inszenierte Grüber vor elf Jahren am Piccolo Teatro Mailand, was einen überforderten Kritiker des Gourmetblattes Theater heute heftig irritierte: Dies sei der „seltsamste Abend der Saison“, seufzte er. Vor fünf Jahren stieß ein Versuch der Schaubühne, „Heimweh“ zu zeigen, ebenso wie drei Jahre später K.D. Schmidts wunderbare Ulmer Uraufführung des „Verlorenen Sohnes“, auf ähnliches Unverständnis. Kein Wunder, angesichts der im merkwürdigen Halbdämmer liegenden Labyrinthe von Jungs Stücken: Sie verweigern sich konsequent jeder gängigen Dramaturgie, Kausalzusammenhänge werden rücksichtslos ignoriert, immer wieder schlägt die Stimmung abrupt und scheinbar unmotiviert um. Die Figuren scheinen ständig am Rand des Abgrunds entlang zu torkeln, immer kurz vor der Explosion. Jung stößt den Zuschauer eher in eine verwirrende Atmosphäre, als ihm eine übersichtliche Story zu servieren. Sein theatralisches Programm setzt auf Überrumpelung, das präzise Gegenteil des im gleichen Zeitraum entwickelten didaktischen Theaters Brechts: „Die Atmosphäre hat in den Zuschauer einzudringen, berauschend wie Gift, lähmend oder aufputschend, fortgesetzt die Dosis steigernd, tiefer die Injektion. So stelle ich mir das Theater vor.“

Wurden wir in Magdeburg von Jung angefixt, trafen die Injektionen eine Ader, waren die Inszenierungen „berauschend“? Unter welchen Aspekten man sich Franz Jung nähern wollte, demonstriert eine schräge Revue, die das Festival eröffnete: Indem Axel Richter Jung-Texte und biographische Stationen mit Schlagzeilen und zynischen Varieté-Songs der zwanziger Jahre collagierte, stellte er beiläufig einen Zeitrahmen her: Das Jung-Projekt bekam so einen unangenehm gemütlichen, nostalgischen Beigeschmack – eine Reise in die Roaring Twenties, mit der unausgesprochenen Generalthese im Hintergrund, das Chaos dieser Nachkriegszeit spiegele gegenwärtige Umbrüche.

So verwandelte denn auch die verspielteste Uraufführung ein Jung-Stück in ein Panoptikum von Grosz-, Serner- und Schlichter-Figuren: In Kay Wuscheks Version des „Puppenspiels“ werfen hysterisch keifende Liebespaare und obskure Weltverbesserer, Herren im Frack und Damen im Lackröckchen dem Publikum Parolen der Zeit und rüde Jung-Sätze entgegen: „Karl May gestorben!“ – „Will man vielleicht eine Gesellschaft von Schrebergärtnern?!“ – „Das Unglück wird alle Dämme niederreißen!“ – „Leben, Kunst, Chaos! Laßt uns chaotisch sein!“ Großmäulige Sätze wie aus Punk- Evergreens – wie überhaupt dieses Spektakel auf Jungs Pop-Qualitäten setzt: Seine Haß- und Verzweiflungsausbrüche sind immer von existentiellem Ernst und gleichzeitig gelungene Selbstinszenierungen voller Lust an der schlagkräftigen Parole.

Wie nah Jungs Stücke der Atmosphäre amerikanischen Krimis, Hafenkneipen- und Südsee-Szenarien, düsteren Filmen und anderen Pop-Mustern sind, leuchteten die beiden besten Inszenierungen des Festivals hochspannend aus: „Heimweh“ (Regie: Wolf Bunge) und Hermann Scheins Uraufführung von „Geschäfte“, beides Produktionen der Freien Kammerspiele Magdeburg. Die Inszenierungen zeigen, wie ein anarchistischer Intellektueller seine Verzweiflung und seine ätzende Zeitanalyse in die Bilderwelt der Trivialmedien projeziert: Jung ist ein begnadeter Pulp Fiktionär – kein Wunder, daß die Staatstheater, die Theater heute-Kritiker und andere Agenten der Hochkultur ihn nicht leiden können.

Im Halbdämmer der Mischung aus Hochstapelei und Sehnsucht spielte auch „Der verlorene Sohn“ – ein vertracktes Stück, dessen poetische Kraft die Uraufführung in Ulm vor zwei Jahren überragend vorführte. Die Produktion des Landestheaters Tübingen (Regie: Karlheinz Liefers) plagiiert die Ulmer Inszenierung schamlos und bis ins Detail, sie liefert lediglich ein niederschmetterndes Dokument der Talentlosigkeit. Jung ist ein schwieriger Autor: Wer sich ihm ohne analytischen Scharfblick nähert, scheitert an den Klippen.

Einen ähnlich katastrophalen Schiffbruch erlitt auch die zweite Tübinger Inszenierung: Manfred Weber inszenierte die Uraufführung von „Saul“, dem wohl eigenartigsten (und schlechtesten) Stück Jungs. Weil es um einen Vater- Sohn-Konflikt geht, stellt Weber Schulbänke auf die Bühne und mißbraucht Jimi Hendrix als billiges Sound-Symbol. Weil es um einen Krieg geht, tragen die bedauernswerten Schauspieler Soldatenkluft – eine vollkommen beliebige Metapher. Deutlicher kann ein Regisseur seine Hilflosigkeit gegenüber einem komplizierten Text nicht vorführen. Wie um seine Ahnungslosigkeit in Sachen Jung noch zu unterstreichen, schwadroniert Weber im Programmheft von Piscator. Wer Jung kennt, weiß, wie haßerfüllt er sich in seiner Autobiographie von Piscator distanziert hat. Erfreulich an diesem Desaster ist nur, daß es demonstriert, wie jeder Ahnungslose, der sich an Jung vergreifen will, weil er ihn gerade für modisch schick hält, hoffnungslos untergeht: Jungs Texte sind zu komplex für unbegabte Konjunktur-Ritter, die eine Marktlücke wittern.

Die Entdeckungen des Festivals: „Geschäfte“ und „Heimweh“. Hatte Ernst Stötzner an der Schaubühne vor fünf Jahren „Heimweh“ als ziemlich kunstgewerbliche Oper inszeniert, so zeigt Wolf Bunge das Stück als unaufwendige Skizze, atmosphärisch außerordentlich dicht, frei von aufdringlichen Erklärungsversuchen. Die Figuren sind verlorene Existenzen, Strandgut, Gescheiterte. Ihre Sehnsucht, ihr „Heimweh“ ist so diffus wie ihre Lage: Seeleute in der Hafenkneipe, Abenteurer in der Südsee. Es wirkt völlig normal, daß sie im blinden Amoklauf aufeinander losgehen, sich abstechen, durchdrehen – moralische Werte gibt es sowieso schon lange nicht mehr. Man erfährt nicht, was sie aus der Bahn geworfen hat, Bunge gelingt es, das als tristen Normalzustand zu zeigen: selbstverständliche Verzweiflung, eine merkwürdige Schattenwelt, fremd und gleichzeitig gespenstisch vertraut.

Ähnlich spannend ist Hermann Scheins Uraufführung der „Geschäfte“. Vom Stoff her ist das eine klassische Parabel über den sich sich selbst zerstörenden Kapitalismus: Einige wenige Geschäftemacher betrügen einander und gehen allesamt bankrott. So zynisch wie im Geschäftsleben agieren sie privat. Der Ehebruch ist gute Gewohnheit, heftig alkoholisiert treibt man dem eigenen Untergang entgegen, und draußen vor der Tür sind die Schüsse der Revolution zu hören – soweit ist alles klar und ideologisch schön übersichtlich: Die Bourgeoisie vernichtet sich selbst – der Kapitalismus ist morbide. Aber Jung zerstört dieses platte Weltbild sorgfältig: Seine Bonzen sind arme Schweine, bedauernswerte Opfer, sympathische Säufer. Höhnisch polemisiert der Autor in seinem Kommentar zum Stück gegen die säuberlich in „Gut“ und „Böse“ sortierte Dramenwelt seines Zeitgenossen Carl Sternheim, der „von der Bühne Moral predigt“. Gegen solche binären Codierungen setzt er einen zynischen Fatalismus: „Ich vermag nicht zu sagen, welche der dargestellten Personen glücklich sein soll.“

Die genaue, scharfe, wunderbar feine Uraufführung zeigt beides: den Abgrund, den verdienten Untergang und das Mitleid mit den kaputten Existenzen – ein so melancholischer wie angeekelter Blick auf den Kapitalismus, dessen Untergang sich nun schon ziemlich lange hinzieht. In Scheins Inszenierung wird deutlich, daß „Geschäfte“ ein ähnlich böses und illusionsloses, immer noch aktuelles Zeitstück ist, wie Brechts „Dreigroschenoper“ – nur daß Brecht zynisch war, bevor er die Ideologie entdeckte, und Jung sein zynisches Stück schrieb, nachdem er mit der Ideologie, der utopischen Hoffnung fertig war. Deshalb ist Jung radikaler, unendlich verzweifelter und einfach besser als Brecht.

Am 4., 5., 6. Mai wird dieses Festival in Tübingen wiederholt. Danach sind die Inszenierungen in den jeweiligen Städten zu sehen.