Schönheit ist Durchschnitt Von Ute Scheub

Sie sind als Frau nicht zufrieden mit Ihrem Äußeren? Finden Ihre Knie zu dick, Ihre Mitesser zu groß, Ihre Ohrläppchen zu verknorpelt? Trösten Sie sich: Mit 2,5 Milliarden weiblichen Menschen auf dieser Erde gibt es 2,5 Milliarden Leidensgenossinnen, die ihre Ohrläppchen zu dick, ihre Knie zu groß, ihre Mitesser zu verknorpelt finden.

Daß sie das tun, liegt ganz und gar im Interesse der anderen 2,5 Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Die Schönheit der Frauen ist die Macht der Männer: Was dem weiblichen Geschlecht im Namen der Schönheit alles angetan worden ist oder es sich selbst angetan hat, geht auf keine Kuhhaut. Im alten China wurden den Mädchen die Füße überaus schmerzhaft verkrüppelt, so daß sie kaum mehr laufen konnten. In Birma und bei einem afrikanischen Stamm bekamen Frauen einen Metallring nach dem anderen um den Hals gelegt, so daß der Hals länger und länger und die Last schwerer und schwerer wurde. Sie zu entfernen verhieß ein sicheres Todesurteil: der geschwächte Hals konnte den Kopf nicht mehr tragen und knickte ab. Bei einem anderen afrikanischen Stamm werden Lippen mit eingelegten Scheiben so vergrößert, daß die Frauen kaum mehr essen und sprechen können. Im Iran verschwinden die Frauen hinter schwarzen Stoffmassen, die nicht nur extrem hinderlich sind, sondern im Sommer auch extrem heiß. In Europa waren eine Weile Schnürmieder und Reifröcke modern, die jedes normale Atmen, Gehen und Laufen verunmöglicht haben. Heutzutage ist das Schnüren hinter dem Schneiden zurückgetreten: Busen werden künstlich vergrößert, Falten geliftet, Oberschenkelfett abgesaugt. In der Geschichte ist kaum ein Trick ausgelassen worden, um den Frauen die Freude an ihren Körper zu vergällen und sie am selbständigen Laufen, Sprechen, Leben zu hindern. Je heftiger die Frauen unterdrückt wurden, desto rigider waren die Schönheitsideale. Hinter der Maske der Schönheit verbirgt sich die Macht.

Warum bloß sind die blöden Weiber dagegen nie Sturm gelaufen? Wahrscheinlich wollen sie halt alle bloß schön sein. Ich will ja auch schön sein. Und meine Freundinnen auch. Göttin sei Dank ist die Mode der lila Latzhosen und grauen Sackhopser wieder ganz schnell aus der Mode gekommen. Seitdem kleiden wir uns mit dezentem Schick und verkünden in dezentem Tremolo, daß wir begehrenswert sein möchten, ohne uns nach dem gängigen Männergeschmack zu richten.

Aber wer oder was ist schön? Hierzu gibt es ein interessantes Experiment. Anhand von Porträtaufnahmen sollten Testpersonen angeben, wie schön oder häßlich sie die Abgebildeten finden. Im Lauf des Versuchs wurden dabei immer mehr Bilder übereinandermontiert und zu einem einzigen Menschen „verschmolzen“. Das Ergebnis: Je mehr Hakennasen und Stupsnasen sich zu einer geraden Nase vereinten, je mehr große Münder und kleine Münder einen Durchschnittsmund ergaben, desto schöner wurde das Porträt empfunden. Mit anderen Worten: Das, was wir als schön bezeichnen, ist der Durchschnitt, und Claudia Schiffer ist das absolute Durchschnittsweib. Nur wir, die wir nicht wie Claudia aussehen, entkommen dem Schicksal des Durchschnittsmenschen. Das ist doch tröstlich.