Bewußtseinserweiterndes Teamwork

Klassizismus, Disneysierung, Subkultur und Erwachsenenmedium: Vor 100 Jahren erschien der erste Comic  ■ Von Martin Zeyn

War es vor 100 oder 4.500 Jahren? Scott McCloud, Zeichner und Art-School- Lehrer, erklärte in seinem Buch „Understanding Comics“ ägyptische Hieroglyphen zu Comics. Soll sich durch Zwangseingemeindung eine Tradition verschafft werden? Schon die Auseinandersetzung um das Alter der Comics trennt Puristen von Massenmedienforschern und Semiotiker von den Fans.

Am 5. Mai 1895 erschien in Richard Felton Outcaults „Opening of the Hogan's Alley Athletic Club“ ein greisenhaftes Kind mit Glatze und Segelohren in einem Nachthemd, ein bad guy aus dem Brooklyner Immigrantenslum. Zwar hatten sich schon vor 1895 Bildergeschichten etabliert. Die Figur des Kindergreises jedoch zeichnet sich durch zwei Neuerungen aus. Nicht unter der Zeichnung, sondern auf seinem Nachthemd erscheint sein Text. Und am 16. Februar 1896 wird die Figur für eine technische Revolution in der New York World auserkoren: Sie erhält ihre namensgebende gelbe Farbe und wird zu The Yellow Kid. Bis zu diesem Zeitpunkt war es nicht möglich gewesen, das Gelb auf dem holzhaltigen Zeitungspapier innerhalb der schwarzen Konturen zu fixieren. Die „neue“ Farbe machte die Serie zum Kassenmagneten.

Im Kampf der Giganten der Zeitungsverleger Hearst und Pulitzer spielte jede Form von Graphik eine wichtige Rolle im Kampf um die Auflagensteigerung. Bis 1898 wechselte Outcault mit seiner Serie dreimal zwischen den sich überbietenden Hearst und Pulitzer. Die Auflage entscheidet von nun an über die Lebensdauer einer Comic-Figur.

Comics erzählen anhand von Auslassungen zwischen den Panels, und der Text fungiert als graphischer Bestandteil des Bildes. Art Spiegelman bestimmt die Unterschiede zu ähnlichen Erscheinungen innerhalb der Kunst (Karikaturen, Bilderbögen): „Comics sind ein vollgepacktes Medium, das konzentrierte Informationen in relativ wenigen Worten und vereinfachten, kodierten Bildern liefert.“ Die Fähigkeit, Comics zu lesen, mußte allerdings erst erworben werden. Fast 30 Jahre lang wurden in den Sonntagsbeilagen der Zeitungen die Panels numeriert, damit niemand sich in der Seite verirrte.

Comic-Autoren wie McCay (Little Nemo in Slumberland), Feininger (The Kin-der-Kids) und vor allem Herriman (Krazy Kat) entwickeln eine Formsprache, in der spielerisch die Trennung von Schrift und Bild aufgehoben wird. Dabei zeigt sich, daß gerade die dem Comic immer noch vorgehaltene Schablonenhaftigkeit keineswegs Experimenten im Weg stand: Allein das immer wiederkehrende Ende (Little Nemo fällt aus seinem Bett als letztes Panel) sicherte Erkennbarkeit und Leserbindung, so daß für die Entwicklung der Geschichte enorme Freiheit blieb. Diese Freiheit bestand allerdings nicht grundsätzlich. Durch die Gründung von Syndikaten, die den Vertrieb der Comics an die Zeitungen organisierten, verloren die meisten Zeichner die Rechte am Namen und Set ihrer Strips. Die Bad-guy-Geschichten wichen mehr und mehr konformistischen Familien- und Kindergeschichten, die schematische Abstraktion früherer Comics wurde durch naturalistische Zeichenweise der Abenteuer- und Superheldengeschichten ersetzt. Zu den farbigen Sonntagsseiten war 1907 der daily strip in der Tagespresse gekommen, seit 1934 etablierte sich mit „Famous Funnies“ das comic book als Heftchenkultur.

Um die Syndikate täglich mit Comics zu beliefern, setzte sich bei erfolgreichen Strips Teamarbeit durch. Lange vor Barthes' These vom Tod des Autors waren in den Studios die Assistenten für das Lettering (den handschriftlichen Text), die Kolorierung, Hintergründe oder komplette Geschichten zuständig. Der Autorenname fungiert im Comic-Bereich zuweilen nur noch als Markenzeichen. Wo Hergé draufsteht, ist Hergé drin, auch wenn in späten Ausgaben Jacobs die technischen Details zeichnete.

Seit 1930 veröffentlichte Hergé – abgesehen von einer Zwangspause wegen Kollaboration mit den Deutschen – seine zuvor erschienenen Tintin-/Tim-und- Struppi-Geschichten als Alben. 1938 erschien zum ersten Mal das Jugendmagazin Spirou, dessen Aufmacher die Geschichten des Hotelpagen Spirou bildeten. Eine eigene deutsche Comic-Entwicklung (wie sie mit Busch denkbar gewesen wäre und in e.o. plauens „Vater und Sohn“ angelegt ist) wurde zur selben Zeit von den Nazis unterbunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Debatte um Schmutz und Schund weitergeführt, Comics als „amerikanisches Idiom“ denunziert.

Weniger bekannt ist, daß sich in den USA ähnliches abspielte: Im Umfeld des von McCarthy berufenen Ausschuß gegen unamerikanische Umtriebe wurden über 90 Prozent aller Comics von Sex, exzessiven Gewaltdarstellungen, Blut und seltsamerweise auch Särgen gereinigt – die Disneysierung der amerikanischen Bilderwelt setzte sich durch. Noch heute kann der Verkauf von Robert-Crumb- Comics an Minderjährige zur Schließung eines Geschäfts führen. Der hysterische Umgang mit der Darstellung von Sex ermöglicht ironischerweise einigen Underground-Verlagen, ihre Produktion mit Pornographietiteln zu finanzieren.

Beatnik- und Hippiebewegung schufen die Grundlage für einen Erwachsenen-Comic, der sich zunächst eher auf eine underdoghafte Subkultur bezog. Drogenerfahrung, Pubertätsprobleme, Geldsorgen und männlich fixierter Sex waren frühe Themen. Über head shops, in denen Zubehör für Bewußtseinserweiterung erhältlich war, existierte ein Vertrieb abseits des Mainstream. Diese Szene brach mit dem „Crash von 1973“ weg, als die Drogenläden geschlossen wurden. Das Quasi-Monopol von Marvel und DC auf dem US- Markt hat hier seinen Ursprung.

In Europa etablierte sich in den siebziger Jahren ein Klassizismus des Kunst-Comics, graphisch extrem aufwendig gezeichnet, literarisch im Ton und auf dem Individualismus des 19. Jahrhunderts beharrend. Parallel dazu wurde ein Markt für fetischistische Sammler geschaffen – signierte, numerierte Luxusausgaben in Schweinslederimitat. Mut machen da auch keine weiteren 100.000 verkauften Carl- Barks-Alben oder die Illustrationen von Art Spiegelman. Heute bekommt alles, was alt ist, zum Jubiläum die Auszeichnung Klassiker. So als ginge es noch immer darum, die Eltern zu überzeugen, daß Comics kein Schund sind. Dabei würde es zur Legitimation des Comic als Kunstform schon genügen, auf die ureigenen Qualitäten des Mediums, seine Text-Bild-Dialektik, das fragmentarische Erzählen, das konzeptionelle Spiel zu verweisen. Es ist eben ein sehr ausgefuchstes Zeichensystem, egal ob als Witzheftchen oder Auflagenobjekt in den Galerien von Köln und Soho.