Ich zeige dir mein Paradies

Ab ins tiefe Sauerland – des Bildungshungers und der Zerstreuung wegen  ■ Aus Freudenberg Jan Feddersen und Alexander Heinz

Der lachende Vagabund“ plärrt aus allen Lautsprechern. Die Köpfe sind mürbe, es war ein langer Tag. Doch hier scheint alles klar: Fred Bertelmann singt. Kennen wir doch. Oder? Üble Klippe, das. Und das ganze Leben mag beileibe kein Quiz sein, aber hier, mitten im Sauerland, in Freudenberg, das wirklich so heißt, um 22 Uhr, kurz vor dem Schlafengehen, droht uns ein furchtbares Scheitern. Wer, verflucht noch mal, also hat den lachenden Vagabunden für sich abgekupfert?

Mittwoch, dritter Tag des Seminars, das unter der Überschrift „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“ 25 fremde Menschen an einen hufeisenförmigen Tisch zwingt. Uns gegenüber sitzen Elisabeth, Dieter und Günter. Sie haben die Lösung längst notiert. Das sieht man, weil sie zufrieden in die Runde gucken und diesen stillen Trimph in ihren Augen tragen, der signalisiert: Tja, wir haben's – und ihr? „Von wem ist das bloß?“ raune ich leise zur Heinz hinüber. Das junge Ding hat wie üblich keinen Schimmer. Nun sitzen wir schon nebeneinander und können nicht mal voneinander abgucken. Marlene und Manfred aus Oberschleißheim, das Pärchen, das sich der verdientsvollen Aufgabe widmet, das „Magazin für Freunde deutscher Oldies“ unter dem Titel Memory (eine Art Spex für Schlager) herauszugeben, sind auch schon fertig. Günter, Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn und Erfinder dieses Seminars, hat sich dieses Ratespiel für den Abend ausgedacht.

26 Titel und 30 Künstler sind zu erraten, hat er uns mit auf den Weg gegeben. Irgendeine Rarität gilt es als Preis zu erobern. Und eine Schulklasse von Erwachsenen hat die Bleistifte gespitzt. Bunte Poster an den Wänden verheißen, worum's sich seit Montag dreht: Schlager, Schlager, Schlager. Peter Alexander, Caterina Valente und Connie Francis leuchten von den Bildern wie Heilige herunter. Die Heinz, den Ernst der Stunde unterschätzend, vermißt Heintje und seine „Mama“: Muß ein „Muttertrauma“ sein, doziere ich knapp zwischen zwei ungelösten Aufgaben, rätselnd, ob nun Illo Schieder oder Rudi Schuricke oder eventuell doch Cindy & Bert einzutragen sind.

Freudenberg soll uns fremde Welten nahebringen. „Politik und Deutscher Schlager“ heißt es in der Unterzeile des Programms. Ein pompöser Sammelbegriff, der freilich auch formuliert wurde, um den Teilnehmenden freie Tage nach dem Bildungsurlaubsgesetz zu ermöglichen.

Bildungsurlaub. Seit Anfang der siebziger Jahre dürfen Lohnabhängige gelgentlich Urlaub nehmen, ohne Urlaub zu nehmen, sozusagen. Man bildet sich, worüber, ist fast egal: in Bonsaipflege, Englisch, Buchhaltung, Schlager, politischer Geschichte. Unser Kursus gilt als bildungsurlaubswürdig, weil er die politische Geschichte reflektieren soll, so offiziell.

Tatsächlich gaben 1988 bei einer Umfrage des Starnberger Studienkreises für Tourismus 80 Prozent der Befragten an, die freie Zeit für Kultur und Bildung nutzen zu wollen – doch nur ein Bruchteil traut sich derweil noch, Bildungsurlaub zu beantragen. Insofern sitzen im sauerländischen Freudenberg Mutige, Aufrechte und Tapfere, sie haben keine Scheu, ihr Recht per Antrag einzureichen – auch wenn ihnen das, meist Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, leichterfällt als Kostgängern der Privatwirtschaft.

Gemein ist uns in Freudenberg dennoch vorläufig nichts. Von wegen Bildung und Kultur. Die Ansprüche an die laue Woche kommen viel profaner, ja, menschlicher daher. Das Gros will schwelgen in alten Zeiten. Doch fast hätte die Heinz die Schlager-Woche verdorben: Ohne übertriebene Scham teilt sie mit semiakademischer Penetranz mit, etwas „dekonstruieren“ zu wollen, plaudert allen Ernstes über „Alltagsgeschichte“ und einen „Ansatz von Oral History“, den es besonders dringlich zu entdecken gelte, schwärmt, unterstrichen durch rudernde Arme, von der Möglichkeit, Nachkriegsgeschichte neu zu „verorten“.

Gott sei Dank gab der Rest der Teilnehmerschar lebensnahere Auskunft. Die meisten wollen nichts als Schlager hören, alte Zeiten hochleben lassen. Elisabeth, eine selbstbewußte Sozialdemokratin aus Bergkamen, so um die 50, will Argumente hören, die ihr der jüngst absolvierte Bildungsurlaubskurs in „Sokratischer Rede“ beim besten Willen nicht vermitteln konnte: „Ich möchte mich nicht mehr verteidigen müssen, daß ich WDR 4 höre.“ Doris, die auch schon in die Geheimnisse der Redekunst eingewiesen wurde, nimmt sich „Urlaub von zu Hause“. Fast wäre die Bildungswoche im heitersten Sinne gebongt gewesen, so fünf Tage multimedialer Trash, hätte sich nicht Dieter aus Köln mit streng-nachsichtigem Bariton zu Wort gemeldet. „Es geht hier doch um Politik“, droht er und legt seine Stichworte für die Woche vor: Brandt, die Brüsseler Verträge und der Schlager. „Da gibt es bestimmt Zusammenhänge“, schießt er seine Vermutung in den sonnendurchfluteten Raum, nicht ohne anzufügen, daß „es nicht darum gehen kann, nur Schlager zu hören“. Aber was heißt „nur Schlager“? Andreas, dem Zollbeamten aus Bielefeld, sind sie alles. Zusammenhänge sind ihm egal; er will mehr über Peter Orloff erfahren, „den ich auch persönlich kenne“, wobei er einen Tag später, wieder lobbyierend in Sachen P.O., nicht unerwähnt läßt, daß sein IQ 120 betrage.

Große Momente: Wir sind angekommen. Ein Ort, an dem Menschen mit so verschiedenen Erwartungen und Wünschen zusammenfinden, kann nicht enttäuschen. Und ich grüble: Warum bin ich eigentlich hier? Mein Blick schweift durch die Tür hinaus in die Halle. Da steht er, der fleischgewordene Grund. Volki, wie sich später herausfinden lassen sollte, Leiter eines im gleichen Haus abzuhaltenden Seminars für angehende Führungskräfte aus der früheren DDR. Ein schmales Hemd von Mann, aber grimmigen Blicks. Ein Sympath auf den ersten Blick, muffig, gelichtete Haare, sonnengebräunt, ganz der Typ „erfolgreich aus eigener Kraft“. Die Heinz weiß, was bekömmt, und hämt: „Dein Bildungskurschatten?“

Die Reviere sind abgesteckt: hie Vernunft, dort Gefühl, hie und dort irgendwas dazwischen. Gibt es für Siw Malmkvist und Brüsseler Verträge einen gemeinsamen Nenner? Immerhin: Freudenberg gefällt allen. Es sieht so aus, wie sich amerikanische Touristen eine deutsche Kleinstadt vorstellen: fachwerkgiebelig, heimelig, sauber angestrichen, Gasthäuser mit deutschem Essen („Saftiger Sauerbraten mit Knödel – 12,80 DM“), und mit einem Eiscafé in der Ortsmitte, in dem sich die Kursteilnehmer in der Mittagspause zum „Bananasplit“ oder zum „Schlemmerbecher Hawaii“ treffen.

Es wird schließlich schöner, als wir alle denken, und zwar, weil eigentlich alle aneinander vorbeireden. Während der Zollbeamte von P.O. nicht lassen kann, fühlt sich ein anderer Teilnehmer enttäuscht, weil sein Steckenpferd die Schlager aus der Nazizeit sind. Karla, alt und stolz und rüstig und munter, findet alles gut. Günter aus der Stiftungszentrale hat schwer zu tun: Quiz, Disco und Tanzen – er ist fast der einzige, der den alleinreisenden Mittvierziger- und -fünfzigerinnen als Tänzer zur Verfügung steht, weil die Jüngeren nicht zwischen Foxtrott und Chachacha unterscheiden können.

Er macht sie alle zufrieden. Doris, die Donnerstag ihren Geburtstag „endlich mal ohne Familie“ feiern darf, glüht aus allen Poren bei „Tanze mit mir in den Morgen“. Und Paula, eine stolze Paderborner Variante der bayerischen Renate Schmidt, scheint wie auch die anderen Frauen während des Seminars mit der Musik ihrer Jugend aufzublühen. Denn während Dieter aus Köln am Donnerstag darauf beharrt, nun endlich die Brüsseler Verträge, Konrad Adenauer und den deutschen Schlager ins didaktische Verhältnis zu setzen, seufzt Elisabeth ihm entgegen: „Schlager sind einfach schön.“

Thesen, ob Cornelia Froboess und ihre „Diana“ die Urfiguren des Feminismus abgeben könnten, ob „Hundert Mann und ein Befehl“ ein letztes Gefecht der Revanchisten darstellte oder „Diese Welt“ Katja Ebsteins ein subversives Urfanal der Grünen war, werden erörtert, verworfen und angenommen, gewogen und für gleichgültig befunden: Doris weiß nur, daß die „Caprifischer mich aus der Provinz befreit haben“.

Was zählt, sind die Abende. Dann schrillt „Du“ (Peter Maffay) aus den Boxen, zeigt der P.O.- Freund, wie ausladend Armbewegungen sein können, wenn man im Vollplayback singt und eine Zahnpastatube als Mikro verwendet, so gegen zwei Uhr mitteleuropäischer Zeit. Dann taut Günter Loose, berühmter Schlagertexter („Marmor, Stein und Eisen bricht“) aus Zürich, so richtig auf: „Damals, der Drafi, das waren noch Zeiten ...“ So kommt unversehens auch noch die große Welt in die Gustav-Heinemann-Akademie, so zwischen zwei Schoppen Wein. Per du ist man längst: „Kein Land kann schöner sein“ (René Carol) scheint wie für uns getextet.

Die Stimmung kippt endgültig ins Familiäre, als Herr Heinz eines Abends die Barschlampe abgeben muß. Auf meinen Vorschlag hin, ihn so, wie er da fleißig die Biere und die Weinchen ausschenkt, Heidi zu taufen, stimmen alle fröhlich ein. Aus Brüsseler Verträgen werden lebenslange Freundschaften. Volki hat sich längst als Muffkopf herausgestellt, der lieber „anspruchsvolle Diskomusik“ hört und die Rolling Stones. Elisabeth weiß nun, warum sie WDR4 hören darf: „Weil diese Musik etwas fürs Herz ist. Für mein Herz. Darum geht es. Mir jedenfalls.“

Natürlich bleibt die Bildung nicht auf der Strecke. Oder hätte jemand gewußt, daß Udo Jürgens die „Lachenden Vagabunden“ ganz am Anfang seiner Karriere, so Ende der fünfziger Jahre, coverte? Lachenden Vagabunden gleich ziehen wir Bildungsreisenden am Ende von dannen in unsere Heimatstädte. Unseren Kollegen, Chefs, Freunden und Verwandten werden wir nur schwer erklären können, was in dieser Bildungswoche eigentlich passiert ist. Doch stört uns das? Was bleibt, ist: Schlager. Und weil es für jede Situation auf der Bildungsstrecke, die wir Leben nennen, einen Schlagertitel gibt, wollen wir am Ende ein Lob auf Freddy Quinn bringen und einstimmen: „Vergangen, vergessen, vorüber“.