Brasilien und das Kriegsende in Europa
: Verfolger und Verfolgte gleichgesetzt

■ taz-Serie: Was am 8. Mai außerhalb Europas geschah

Nicht die USA, sondern Brasilien entpuppte sich für Hans Stern als Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Nach 56 Jahren in dem größten Land Lateinamerikas regiert der jüdische Emigrant aus Essen heute über 170 Juweliergeschäfte in fünfzehn Ländern. Obwohl er seine Berufswahl als „reinen Zufall“ bezeichnet, ist sie doch direkt mit seinem Emigrantenschicksal verbunden. „Mit Schmuck hat man einen Wert in der Hand. Wenn Not am Mann ist, kann man ihn versetzen“, sagt der mittlerweile 72jährige.

Als Hans Stern im Februar 1939 in Rio de Janeiro an Land ging, war die ehemalige brasilianische Hauptstadt eines der wichtigsten Zentren für jüdische Einwanderer nach Lateinamerika. Brasilien hat in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts fünfzehn Prozent aller jüdischen Flüchtlinge aufgenommen, die ihre Heimat verlassen mußten. Heute gehören der dortigen jüdischen Gemeinde rund 200.000 Mitglieder an. Doch weder in Brasilien noch im Nachbarland Argentinien, mit einer halben Million Immigranten die größte jüdische Gemeinde Lateinamerikas, wurden die Juden mit offenen Armen aufgenommen.

Argentinien gewährte verfolgten europischen Juden nicht freiwillig, sondern aufgrund des politischen Drucks aus den USA Asyl. Die rund 300.000 Auslandsdeutschen, mehrheitlich Hitler- Sympathisanten, die Ende der 30er Jahren in Argentinien lebten, setzten die Verfolgung der Nazi-Flüchtlinge am Rio de la Plata fort.

Als Vargas 1937 ausländischen Rechtsanwälten, Ärzten sowie anderen Freiberuflern verbot, ihre Geschäfte auszuüben, zog die Mehrheit der jüdischen Immigranten nach São Paulo um, wo die von dem populistischen Diktator erlassenen Gesetze etwas flexibler gehandhabt wurden.

Hans Stern fühlte sich von der brasilianischen Obrigkeit jedoch nicht verfolgt. „Es gab absolut keine Rassenvorurteile, es war eine relativ wohlwollende Diktatur“, meint er. Samuel Malamud, erster diplomatischer Vertreter Israels in Brasilien, bestätigt Sterns Eindrücke. „In Argentinien wurde unter Präsident Domingo Peron [1946–1955, d. Red.] der Antisemitismus offiziell gefördert. So etwas gab es in Brasilien nicht“, meint der Anwalt, der 1923 aus Rußland nach Brasilien kam.

Der brasilianische Schriftsteller Fernando Morais bestreitet in seinem Bestsellerroman „Olga“ die These des friedlichen Miteinanders. „Die Bewunderung Vargas für den deutschen Reichskanzler war so groß, daß er Olga Benario im siebten Monat ihrer Schwangerschaft an die Nationalsozialisten auslieferte.“ Die deutsche Jüdin hatte im November 1935 zusammen mit ihrem Mann Luis Carlos Prestes, dem legendren brasilianischen „Ritter der Hoffnung“, versucht, in Brasilien die Revolution herbeizuführen.

Als Brasilien 1943 in den Krieg gegen Deutschland eintrat, wurden die Juden vorübergehend offiziell zum Staatsfeind. „Mein Vater wurde zusammen mit dem deutschen Konsul und einem deutschen Pater ins Gefängnis geworfen“, erinnert sich Hans Stern. Für die Brasilianer sei deutscher Jude oder Deutscher dasselbe gewesen. Hans Wilmersdorfer, der 1939 von Hamburg aus mit einem Schiff über Belgien nach Brasilien gelangte, verlor durch die Gleichsetzung mit seinen Verfolgern sein ganzes Vermögen.

„Als deutsche U-Boote begannen, brasilianische Schiffe zu versenken, beschlagnahmte die brasilianische Regierung die Besitzstände deutscher Einwanderer“, erinnert sich der ehemalige Häftling des KZs von Dachau. „Deutsche Nazis, Nichtnazis und Juden wurden alle über einen Kamm geschoren. Ich mußte zahlen.“ Astrid Prange