■ Die Deutschen nach dem Zusammenbruch
: Nazis zu Demokraten!

So makaber es klingt, so richtig ist es. Die Demokratie in Deutschland verdankt sich dem Überlaufen von 8,5 Millionen NSDAP-Genossen, der Million SS-Angehöriger, dem Heer der Hitler-Beamten, der Himmler-Polizei usw. Der Rechtsstaat fußt auf der Desertion des geschlagenen Nazilagers. Diese Generation Deutscher, genauer Westdeutscher, hat keinen Führerstaat mehr herbeiputschen wollen, keine verlorenen Gebiete rückerobern, keine Rasse reinigen. Sie hat sich vorbehaltlos den Spielregeln der Demokratie angepaßt. Sie konvertierte ohne die erwünschte Reue, Trauer, Haftung und Aufrichtigkeit, doch, wie die Welt dankbar vermerkte, zuverlässig. Die Vergangenheit blieb – mit dem Seufzer „unbewältigte“ – partout Vergangenheit. Es glückte in einer günstigen Weltlage, benötigte eine verzwickte Taktik und forderte einen entsetzlichen Preis.

Der Zusammenbruch des Dritten Reiches hat keineswegs Hunger nach Demokratie entfacht. Die politische Freiheit der Westzonen ist in vier Jahren Besatzungsdiktatur herbeigezwungen worden. Die Okkupanten schlugen das Reich samt Regierung, Beamtenschaft, Streitkräften, Territorium entzwei, setzten die Staatsbediensteten unter Berufsverbot, ließen Politiker einsperren oder henken und ermächtigten andere, demokratisch gesinnte. Aus alledem zogen die Nazis realistische Schlüsse. Sie unterließen den üblichen Partisanenkrieg, überzeugt, daß in Dresden und Hiroshima ein neues Militärzeitalter geboren war. Deutschlands legendäre Heere würden einstweilen allein als Partner einer erstklassigen Luftkriegsmacht noch taugen. Der Gefangene Generalstab setzt den amerikanischen Kollegen seine Rußlanderlebnisse auseinander. Der Reiz einer atlantischen Waffenbrüderschaft demokratisierte die Bundesrepublik gleich doppelt. Die Westalliierten lockerten ihren Entnazifizierungs- und Vormundschaftskurs, denn die Nazis waren schneller von Begriff als anzunehmen. Die Bundesdeutschen wiederum entdeckten in der westlichen Werte- und Verteidigungsgemeinschaft einen greifbaren Vorteil. Sie konnten Stalins Terror- und Plünderorgien nur als Teil der freien Welt blockieren. Dem gegenseitigen Arrangement ließen sich auch die älteren Erinnerungen und Künste gut einverleiben. Es war nicht alles falsch gewesen. Den Feind hatte man als erster erkannt, den Herausforderer der gemeinsamen, der christlich-abendländischen Zivilisation.

Der zivilisierte Westen ließ die Bundesrepublik am Nachkriegsboom teilhaben, denn nur ein blühender Staat ist zum Frontstaat geeignet. So wurden dem Land Aufbaukredite und Märkte angedient, statt Reparationen entzogen. Von der Straf- und Säuberungskampagne ausgenüchtert, reihten sich die Nazis unter die Klientel der demokratischen Parteien, der Gewährsleute der Sieger. Der Preis des Beitritts, ein öliger Konformismus, verlangte indes harte Seelenarbeit. Auch nach der Wende zur Kaltkriegerei war ein nazistisches Vorleben keineswegs wohlgelitten. Nein, es hatte einem Verbrecherstaat gedient. Eine Nazi-Utopie konnte niemand für sich reklamieren. So wurden zwei biographische Reservate eröffnet, in denen man sein Leben unter Hitler passabel verbracht haben konnte. Das Reservat erster Klasse war der versteckte Widerstandskämpfer und Partisan im Apparat. Das Reservat zweiter Klasse war der anständige, aber furchtsame Mitläufer. In den Reservaten war nahezu die ganze NS-Gemeinde unterzubringen. Jeder hatte auf seine Weise Sand ins Getriebe geworfen oder gekuscht aus Angst vorm KZ. Nur das Wahrzeichen des Dritten Reiches, der Enthusiasmus, die Überinitiative, die Hundetreue, der Rassenstolz, das Weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt, dieses wilde, gewaltige Opferfest der Nation, dazu konnte und kann man sich nicht mehr bekennen.

Für ein Volk, das vier Millionen gefallener Männer und 600.000 Bombentote dem Nazifeldzug dargebracht hat, ist es peinigend, ihn als Verbrechen und Idiotie auszugeben. Diese Übung verdoppelt den Verlust. Dem leiblichen Opfer steht kein Gewinn gegenüber, kein Ruhm, keine Gerechtsamkeit, kein Griff nach der besseren Welt, nur Dummheit und Wahn. So waren am Ende alle die Dummen und salbten sich nebst den von ihnen Attackierten und Ausgetilgten zu makellosen Opfern Hitlers, überwältigt, mißbraucht, hereingelegt. Die Wehklage über das schlimme Los der ungefragt Verheizten enthielt die einzig allgemeinverträgliche Distanzierung vom Nationalsozialismus. In der Welt der Sieger war dessen Attraktion und Zauber nicht mehr darstellbar. Als geständiges Nazischwein durch die Bundesrepublik zu pilgern ist hingegen keine Massenperspektive.

Blieb übrig der Systemkonformismus der vertauschten Identität, der verleugneten, der verratenen Biographie. Das ist das qualvolle Exerzitium des Abfalls. Wer das Aroma der Führertreue abstreifen wollte, mußte schon immer dagegen gewesen sein. Er muß sich krümmen, dementieren, häuten. Das System belohnte den Abtrünnigen mit Amnestie und Vertrauen. Es will gar nicht wissen, wer schwindelt und wer nicht. Auf die Wahrheit kommt es nämlich gar nicht an, sondern auf die Loyalität. Belastete Schwindler sind loyaler, denn sie stehen unter Bewährungsdruck. Und aus gequälten Konvertiten schuf sich diese christliche Republik einen standfesten Sockel. Mehrheiten ohne Altnazis gab es nicht in Deutschland. Diese wurden maskiert, dankbar für so viel Verleugnungswillen, hoffend, daß auf Dauer die Maske das Gesicht durchdringe. Der Nationalsozialismus ist geächtet, und die Nationalsozialisten sind eingemeindet. Vorausgesetzt, sie unterwerfen sich dem Monopol der Demokratie. Sie duldet nicht die Konkurrenz der NSDAP. Aus schierem Selbsterhaltungstrieb hat es die Republik zudem verstanden, wendigere Nazis, umgestiegen in Reform-NSDAPs, vom Regierungsgeschäft auszusperren. Die Nachfolgeparteien DRP, SRP, NPD, REPs gelangten prinzipiell nicht in Koalitionsregierungen, konnten keine Wählerinteressen durchsetzen, blieben Schreihälse. Der Nationalsozialismus kam dergestalt nicht dazu, sich zu reformieren, zu differenzieren, anders zu personifizieren, fortzuentwickeln, neu zu bewähren. Er blieb im Trümmer- und Leichengebirge seines Regimes eingeschlossen, ein Symbol für Terror und Selbstzerstörung. Die Repräsentanten des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik heißen Papa Kaduk aus dem Auschwitz-Prozeß, Blutige Brygida aus dem Majdanek- Prozeß, neben Hunderten von KZ- Bestien, die 45 Jahre lang vor den Strafkammern aufmarschierten und dort murmelten, wie sie Juden selektiert, Ghettos geleert, Gaskammern gefüllt und Geisteskranke vergiftet hatten. Weder aus Überzegung noch mit Begeisterung, gar nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Führerbefehl, Gesetzeslage, Staatsräson und Volkeswille. Sie seien Werkzeuge gewesen, Rädchen im Getriebe. Zwischen Hitler, Himmler, Heydrich, den Betreibern und den Berserkern unten an der Rampe rollte ein Fließband, das der reguläre Beamten-, Justiz- und Wehrmachtsapparat unter öffentlichem Beifall mit Ausgegrenzten beschickt hatte. Und diese Beschickung war rätselhaft sauber geblieben. Die Zutreiber und Zuschauer hatten vom Ziel nichts gewußt und zugleich das, was sie nicht wußten, rastlos hintertrieben.

Die KZ-Bestien hatten das Dritte Reich weder ersonnen noch veranstaltet, hafteten indes dafür. Mit Recht, denn alles, was Sinn und Veranstaltung des Dritten Reiches gewesen war, ballte sich letztlich zwischen ihren blutigen Fäusten. Das hämmerten die NS- Prozesse den Deutschen ein, die nach Amnestie stöhnten, weil ihnen diese Aufrechnungen ihre Eintracht und den Aufbauschwung verdarben. Das Amnnestiebegehr blieb aber unerfüllt. Ein paar Henker mußten büßen, damit der übrige Betrieb unerkannt davonkam. Der Schleier über der Tat ist der Preis der Humanisierung der Täter. Umsonst ist nur der Tod, alles andere kostet und ganz gewiß die Konversion eines Verbrecherstaats. Er kostete die Opfer ihren im Grabe fortwirkenden Anspruch auf Sühne und Gerechtigkeit. Die Bundesrepublik war ihnen etwas schuldig, nämlich den Mord aufzuklären, seine Motive, seine Anstifter, Nutznießer, Befürworter, Mitwisser namhaft zu machen und Konsequenzen zuzuführen. Statt dessen hat die Aburteilung von 780 blutverkrusteten Tötungsarbeitern die Gesellschaftskriminalität still eingenebelt. Das Dritte Reich hat die Tat, die Bundesrepublik die Flucht der Täter organisiert. Das ist das Kainszeichen auf ihrer glatten Stirn. Vorsorglich weiß man gar nicht, was ein Nazi ist. Das Land hat es seit 50 Jahren mit anpassungswilligen NSDAP-Genossen zu tun. Im Gegenzug wurden sie in Mitläufer, Patrioten, Sozialgeschädigte umgetauft. In der Umarmung der Demokratie sind sie versunken. Und so umarmt die Republik instinktiv jeden Nazi wie den verlorenen Sohn. Eigentlich will er nur eine Berufsperspektive und eine Zweieinhalbzimmerwohnung und macht auf seine plumpe Weise mit Menschenjagd darauf aufmerksam. Der unangepaßte Rassist und Schlagetot deutet sich den ausgebreiteten Arm als erhobene Hand. Ist das schief gesehen? Die Republik hat so viele Nazis an die Brust gedrückt, daß ihr der Muskel lahm geworden ist, sich künftiger zu erwehren. Jörg Friedrich