Einen gerechten Krieg gibt es nicht

Deutschlands Teilung war keine Strafe für Auschwitz, sondern Herrschaftspolitik  ■ Von Ekkart Krippendorff

Der Raum der Öffentlichkeit ist erfüllt von lautstarker Besinnung zu den 50. Jahrestagen. Angesichts der Gedenkreden, Leitartikel und Podiumsdiskussionen scheint es geboten, diesem Chor nicht noch eine Stimme hinzuzufügen.

Das zustimmende Schweigen scheint geradezu leichtzufallen, weil doch alles irgendwie stimmt. Denn es „stimmt“ doch, daß der 8. Mai 1945 ein Tag der endgültigen Befreiung vom NS-Regime war. Aber es „stimmt“ natürlich auch, daß jener 8. Mai ein Tag der Niederlage war für das Deutsche Reich, dessen letzte Führung völkerrechtlich korrekt kapitulierte. Ebenso „stimmt“ es, daß der 13. Februar – die Vernichtung Dresdens – an ein Verbrechen erinnert, das zwar zu erklären, nicht aber zu rechtfertigen möglich ist; aber es „stimmt“ gleichzeitig auch, daß „Dresden“ ohne „Guernica“, Rotterdam und Coventry nicht denkbar gewesen wäre. Und während es „stimmt“, daß die meisten Deutschen aufatmeten, daß der Schrecken vorbei war, „stimmt“ es auch wieder, daß für Millionen, sofern sie nicht schon in den letzten Kriegsmonaten ihre Heimat im Osten, in Schlesien oder auch in Böhmen verlassen hatten, erst jetzt die Katastrophe begann: Aussiedlung und Vertreibung. Und daß schließlich, neben vielen, die sich während des Dritten Reiches direkt schuldig gemacht hatten, auch viele Unschuldige in die fatal umfunktionierten Lager gebracht wurden und dort umkamen.

Nur: Das Ganze ist die Wahrheit. In den gegenwärtigen Erinnerungsappellen aber werden wir aufgefordert, Stellung zu beziehen. Die „Guten“ sprechen vom Tag der Befreiung; ihnen war das Gedenken der Zerstörung Dresdens eher peinlich. Sie finden die Erwähnung der Ostvertreibungen im Zusammenhang mit dem 8. Mai 1945 ebenso pervers wie jegliche Erwähnung des Schicksals der neuen Lagerinsassen von Buchenwald oder Sachsenhausen nach der Befreiung, die beide Lagernutzungen miteinander in Beziehung setzt.

Für die „Bösen“ ist das Wichtigste an jenem Jahr 1945 die Niederlage, die Teilung, der Verlust der Ostgebiete, die Vertreibung der Deutschen aus Böhmen. Für sie heißt es Schluß machen mit den ständigen Schuldbekenntnissen, werden doch die Kriegsverbrechen vor allem der SS und einer kriminellen Führung angelastet, die das deutsche Volk und die Wehrmacht verführt und in ihrer patriotischen Pflichterfüllung mißbraucht habe. Der Krieg war der Fehler, nicht das System.

Und auch das „stimmt“ natürlich, hat doch die „ganze Welt“ mit dem Reichskanzler und seinem Regime bis zum September 1939 zusammengearbeitet, ihm Konzessionen gemacht, ließ die Welt das Dritte Reich sich voll und ganz am außenpolitischen Diplomatiespiel beteiligen und grenzte es zu keinem Zeitpunkt aus – und das bei voller Kenntnis der innenpolitischen Verhältnisse, einschließlich KZ und Judenverfolgungen. Wer aber an die Akzeptanz des Hitlerregimes im Kontext der europäischen Politik von 1933 bis 1939 erinnert, findet sich leicht auf der „falschen“ Seite des heutigen Stellungsgrabens der geteilten Geschichtswahrheiten wieder.

Daß es die große Anti-Hitler- Kriegskoalition erst seit Juni beziehungsweise Dezember 1941 gab, Europa bereits vollständig von deutschen Truppen besetzt und der Nazismus bereits seit acht Jahren an der Macht war und in diesen langen Jahren unmißverständlich gezeigt hatte, wozu er fähig war, vom Faschismus seit 1922 ganz zu schweigen: diese historische Tatsache vermag die Schlüssel abzugeben, um der Stimme der ganzen Wahrheit gegen die oberflächlichen Versuche von Vergangenheitsbewältigung Gehör zu verschaffen. Zwei solche „Schlüssel“ scheinen mir da besonders geeignet: der eine heißt „Geschichte“, der andere „Krieg“.

1. Krieg: Bei den Gedenktagen geht es um den Zweiten Weltkrieg und um die Befreiung von Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Bergen-Belsen. Wer möchte da in Frage stellen, daß dies ein gerechter Krieg gewesen ist? Aber gleichzeitig befinden wir uns heute in einem Kriegszeitalter, und diejenigen, die aus den Greueln der Jahre 39–45 die Lehre „Nie wieder Krieg“ gezogen hatten, finden sich nun wieder konfrontiert mit der Entscheidung, moralisch-politisch Stellung beziehen zu müssen zum Krieg. 1991 war Saddam Hussein ein neuer Hitler, und wer vermag sich der Forderung zu widersetzen, durch eine militärische Intervention jene „ethnischen Säuberungen“ in Kroatien und Bosnien zu beenden, die doch ebendas wiederholen, wovon die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges uns befreit zu haben schienen. Plötzlich wird der Zweite Weltkrieg zum Beweis dafür, daß es eben doch immer wieder gerechte Kriege gebe, daß der Pazifismus hingegen dem Verbrechen freien Lauf lasse.

Clausewitz hatte den Krieg bekanntlich definiert als „die Fortsetzung der Politik unter Beimischung anderer Mittel“. Aber welches Verdammungsurteil der Politik enthält diese fast nirgends widersprochene These? Es ist die Politik der kalkulierten Gewaltanwendung, die da auf ihren Begriff gebracht wurde, eine Politik also, die mitnichten auf eine Überwindung der Gewalt, bestenfalls auf ihre temporäre Hegung, realiter aber auf ihre Instrumentalisierung, eben in der Form von Militär beziehungsweise Krieg angelegt ist.

Auch für die späteren Alliierten war Hitler zunächst ein normaler Partner. Als sie nacheinander in den Krieg eintraten, war ihr Gegner nicht das verbrecherische NS- System, sondern der aggressive deutsche Militärstaat. Wäre es um das Nazisystem gegangen, hätten sie sich schon 1933 grundsätzlich anders verhalten müssen; sie hätten das auch gekonnt. Die Errichtung der Diktatur, die Konzentration politischer Gegner, die Judenverfolgungen vollzogen sich öffentlich. Daß die Alliierten nach Kriegsausbruch ihren Bevölkerungen beibrachten, es gehe gegen den Nazismus/Faschismus – dazu bedurfte es nicht viel. Die Deutschen lieferten die Gründe für die Gerechtigkeit dieses Krieges ohnehin frei Haus.

Aber was die gegen das Deutsche Reich kämpfenden vielen Millionen Soldaten und Zivilisten glaubten – sie führten einen gerechten Krieg gegen ein barbarisches Regime –, war nicht deckungsgleich mit dem Kalkül ihrer politischen Führungen. Schon in der Schlußphase des Krieges bereiteten sie sich wieder auf die Politik vor, die nicht darin bestand, den Nazismus zu zerstören, sondern sich der Potentiale der militärisch besiegten Achsenmächte zu versichern, sie ihren eigenen welt- und machtpolitischen Strategien einzufügen. Für den „Westen“ hieß das die Übernahme des „Amtes Gehlen“ und bald auch deutscher Offiziere mit Ostkriegserfahrungen für den Aufbau eines westdeutschen „Bollwerks“ gegen die sowjetische Expansion. Für den „Osten“ hieß das die Durchsetzung kommunistischer Herrschaft in den von den sowjetischen Truppen befreiten Gebieten. Die Spaltung Europas und die Teilung Deutschlands waren das Resultat konkurrierender Herrschaftspolitik – „Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ –, nicht aber, wie einige Warner vor der deutschen Einigung 1989 es sehen wollten, eine „Strafe für Auschwitz“.

Im März 95 wurde aufgedeckt, daß die Japaner 1941 eine militärisch-wissenschaftliche Spezialeinheit aufgebaut hatten, die in großem Umfang chemische und vor allem biologische Kriegführung gegen China plante und zum Teil auch umsetzte (Züchtung von Pestbazillen, Experimente mit Kriegsgefangenen).

Nach der japanischen Niederlage wurde diese Einheit systematisch aus den Kriegsverbrecherprozessen ausgegliedert, unter Geheimhaltung gestellt, um deren Ergebnisse für eine spätere eigene Kriegführung von der US Army auswerten und weiterentwickeln zu können. Es ehrt zwar den amerikanischen Journalismus von 1995, das mit aller gebotenen Schärfe und Deutlichkeit anzuprangern – aber es verweist nur noch einmal mehr auf die Tatsache, daß dieser Krieg von den Strategen nicht gegen Menschheitsverbrecher geführt wurde, sondern gegen Machtkonkurrenten.

Die unterlassene Bombardierung des Konzentrationslagers Auschwitz fügt sich in in diese Logik von Krieg und Politik.

2. Geschichte: Daß die Katastrophe von 1945 sich schon 1933 ereignet hat, darauf wurden und werden wir in diesem Gedenkjahr immer wieder hingewiesen. Aber warum erst mit 1933, dem Jahr der Machtergreifung, beginnen? War da nicht schon längst das Kind einer anderen, besseren Friedensordnung und Politik in den Brunnen gefallen? War nicht der Erfolg der Rechten in Deutschland – mit den Nazis als deren aggressivster Speerspitze – wesentlich eine Folge der vertanen Friedens- und Abrüstungschance von 1919?

Der amerikanische Präsident Wilson hatte sich damals in Versailles mit seiner Forderung nicht durchsetzen können, keinen Siegfrieden zu ratifizieren, sondern einen echten Neubeginn zu wagen: Alle sollten abrüsten – nicht nur die Besiegten. Indem England und Frankreich, nicht zuletzt weil ihre Rüstungen, ihr Militär auch die eigenen Kolonialreiche zusammemhalten mußten, selbst nicht abrüsteten, lieferten sie den deutschen Revanchisten begründete oder doch propagandistisch leicht begründbare Vorwände, von einem „Schmach-und-Schande-Frieden“ zu sprechen, von zweierlei Maß für Sieger und Besiegte.

Hitler erntete nach 1933 das, was 1919 an Verbitterung und Unrecht gesät worden war, und so wurde dann auch die deutsche Wiederaufrüstung, die Rheinlandbesetzung 1936 als „legitim“ hingenommen. 1919 war die pazifistische Perspektive, der angeblich naive „Idealismus“ eines Wilson, realistisch gewesen – nicht diese, sondern die „Realpolitik“ war für Hitler und den Zweiten Weltkrieg wesentlich verantwortlich.

Realpolitik will uns immer Geschichte vergessen machen, um uns auf ihre Logik einzustimmen. Im zweiten Golfkrieg wurde uns das noch kürzlich vorexerziert, wo wir vergessen sollten, wer und wie lange und warum Saddam Hussein groß gemacht, aufgerüstet hatte, ehe er sich dann selbständig machte. Es mag auf den ersten Blick abwegig klingen: Aber dieser Zweite Weltkrieg, der ja, weltpolitisch gesehen, mit dem Überfall Japans auf China und der Eroberung der Mandschurei 1937 bereits begonnen hatte, hat strukturell noch eine viel weiter zurückliegende historische Dimension – nämlich die gewaltsame „Öffnung“ Japans durch die amerikanische Flotte unter dem Commodore Perry.

Japan hatte sich, einmalig in der Geschichte seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, aus der Weltpolitik zurückgezogen! Es wollte friedlich sein und bleiben, nicht in den Kampf und Krieg um Weltmacht, Handelsexpansion und europäische Weltpolitik hineingezogen werden. Es hatte alle Verbindungen zur Außenwelt systematisch abgebrochen (nur mit Holland wurde ein minimaler Außenkontakt noch aufrechterhalten), im Inneren rüstete es sogar ab und war ein befriedetes, friedliches Land geworden. 1854 erschien dann jene amerikanische Kriegsflotte, forderte ultimativ – bei Strafe der Bombardierung japanischer Häfen – die Öffnung für den (amerikanischen) Handel, und Japan beugte sich. Innerhalb nur weniger Jahrzehnte – der sogenannten „Meji-Restauration“ – lernten die Japaner von den überlegenen westlichen Industrie- und Militärstaaten, modernisierten ihre gesamte Gesellschaft, um schon 50 Jahre später eine europäische Großmacht, Rußland, zu besiegen; und nur weitere 40 Jahre später griffen sie Pearl Harbor an... Niemand wollte im Dezember 1941 – und ebensowenig heute, 50 Jahre nach dem Ende des extrem blutigen Krieges im Pazifik, nach Iwo Jima, Okinawa und Hiroshima – daran erinnert werden, daß Pearl Harbor und dieser Teil des Zweiten Weltkrieges der Sturm war, den als Wind die amerikanische Kriegsandrohung 1954 gesät hatte.

Nur wenn wir wenigstens den Versuch unternehmen, den Zweiten Weltkrieg im Zusammenhang von herrschaftlicher Gewaltpolitik und von Krieg als ihrem Mittel zu sehen, verfallen wir nicht dem Dilemma, zwischen gerechten und ungerechten Kriegen unterscheiden zu müssen – auch wenn dieser eine Krieg die reale Konsequenz der Befreiung vom Faschismus zur glücklichen Folge hatte. Und nur wenn wir uns die Geschichte nicht bequemerweise verkürzen lassen, sei es derzeit auf 1945 oder sei es auf Deutschland 1933, besteht die Chance, das Ganze in den Blick zu bekommen und Wahrheiten anerkennen zu können, die uns befreien von der Vergangenheit und für die Zukunft.