Von der Befreiung der Deutschen zur Demokratie

Die Erfahrung eines irregeleiteten Nationalismus hat die große Mehrheit der Deutschen gegen nationalistische Manipulation immunisiert und skeptisch gemacht. Die Gefährdung kommt heute von der Mitte.  ■ Von Hans Mommsen

Die Frage, ob ein Rückfall Deutschlands in Formen der Barbarei, wie sie die Epoche des Dritten Reiches kennzeichnen, denkbar erscheint, ruft bei dem Historiker, der allenfalls als rückwärtsgewandter Prophet fungiert, eine zögernde Reaktion hervor. Ebensosehr, wie er sich bewußt ist, daß sich historische Konstellationen nicht einfach wiederholen und die Umstände, unter denen sich die nationalsozialistische Diktatur durchsetzte, ganz ungewöhnlich waren, kann er erwarten, daß die Individuen und die Völker aus historischen Erfahrungen dauernde Lehren ziehen.

Gleichwohl ist die Frage berechtigt, ob die Deutschen heute, 50 Jahre nach dem Ausgang des Zweiten Weltkriegs, gleichsam ihre Lektion gelernt haben und ob durch den Aufbau einer demokratischen politischen Kultur im Nachkriegsdeutschland Bedingungen geschaffen worden sind, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden kann. Aus der gegenwärtigen Perspektive erscheint der Zusammenbruch des Dritten Reiches, der durch die militärische Niederlage ausgelöst wurde, der aber in den Antagonismen des Systems selbst, das zu dauernden Lösungen nicht fähig war, angelegt war, sowohl als äußere Zäsur als auch als tiefgreifender Bruch mit bis dahin bestimmenden historisch-politischen Denkhaltungen, wenngleich dieser Sachverhalt erst nach und nach von der Öffentlichkeit angenommen wurde.

Während die Reaktion der intellektuellen Eliten zunächst dahin ging, die zwölf Jahre nationalsozialistische Herrschaft aus der Kontinuität deutscher Geschichte auszuklammern, ist inzwischen offenkundig geworden, daß mit dem Scheitern des NS-Systems nicht nur der Nationalsozialismus selbst diskreditiert wurde, sondern auch bestimmte traditionale Denkhaltungen, deren er sich zur Machteroberung und Expansionspolitik bediente, überwunden worden sind, wie der Bismarcksche Reichsgedanke, die preußische Staatsidee und der „deutsche Drang nach Osten“.

Die bis 1945 vorherrschende Vorstellung vom eigenen „deutschen Weg“, die Deutschland eine Brückenfunktion zwischen West und Ost einräumte und die noch im nationalkonservativen Widerstand bestimmend hervortrat, ist gegenüber der Einbindung in die westliche Verfassungs- und Politiktradition, die sich in den Nachkriegsjahrzehnten zumindest im Westen vollzog, aufgegeben worden. Trotz anhaltender Bemühungen von neokonservativen Autoren wie Rainer Zitelmann oder Konrad Weißmann ist nicht mit einer Neubelebung dieser Ideengänge zu rechnen, zumal das materielle Substrat der darin liegenden Abweichung vom europäischen Normalmaß nicht mehr gegeben ist. Damit sind auch Agrarromantik, Großstadtfeindschaft und Lebensraumideologie, die der nationalsozialistischen Politik vorgearbeitet haben, bedeutungslos geworden.

Vor allem aber scheint der Bruch mit dem nationalen Machtstaatsgedanken, der nach 1945 einsetzte, definitiv zu sein, und die Klage über eine angebliche „Machtvergessenheit“ der Deutschen unterstreicht dies nur noch. Eine Anknüpfung an den Bismarckschen Reichsgedanken ist angesichts der unterbrochenen nationalen Tradition schwerlich möglich, und bei den nach dem Krieg aufgewachsenen Generationen ist die Erinnerung daran verblaßt. Es zeichnet sich ab, daß die relative nationale Indifferenz, die die politischen Einstellungen der Deutschen in der Zeit nach dem Kriege kennzeichnet und die gutenteils eine Reaktion auf die Übersteigerung und Pervertierung des nationalen Gedankens durch das Dritte Reich darstellt, keine bloß vorübergehende Erscheinung ist, sondern eine neue Stufe des historisch-politischen Denkens bezeichnet.

Die Erfahrung eines irregeleiteten Nationalismus hat die große Mehrheit der Deutschen offenbar gegen nationalistische Manipulation immunisiert und sie gegenüber nationalen Parolen skeptisch gemacht, was sich bereits 1986/87 anläßlich des inzwischen obsolet gewordenen Historikerstreits zeigte, der über den Versuch entbrannte, einen neuen deutschen Nationalismus ins Leben zu rufen. In dem durch das Zurücktreten älterer nationaler Strömungen und die Durchsetzung eines bewußten Verfassungspatriotismus bestimmten Einstellungswandel liegt möglicherweise die wichtigste Fernwirkung der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Andererseits sind in nationalen Fragen, die stets ein irrationales Moment enthalten, sichere Voraussagen nicht möglich.

Der Bruch mit den Traditionen aus dem Kaiserreich fällt jedoch keineswegs so radikal aus, daß lang gepflegte politische Mentalitäten und Verhaltensweisen nicht bestimmend geblieben sind oder nicht leicht reaktiviert werden können. Dazu gehört jene Einstellung, die der Historiker Theodor Mommsen in seinem Testament als Neigung der Deutschen zum „Dienst im Gliede“ apostrophiert hat. Der 1848er Demokrat bezog sich dabei auf das mangelnde Bürgerbewußtsein in Deutschland, das durch Bismarcks Reichsgründungspolitik vollends zerbrochen wurde und bis heute in der sterilen Vokabel vom „Mitbürger“ anstelle des „citoyens“ durchscheint. Protesthaltungen, wie sie 1844 Heinrich Simon, der spätere Paulskirchenpräsident, an den Tag legte, als er bei der Einführung der Disziplinargerichtsbarkeit seinen Dienst als preußischer Appellationsrat in Breslau mit der Begründung quittierte: „Ich trete als Beamter zurück, um ein freier Bürger zu sein“, würden bis heute bei den meisten Deutschen auf Unverständnis stoßen. Eine Tradition des Bürgerprotests ist in der Bundesrepublik erst in den Anfängen sichtbar, und die jüngsten Ereignisse zeigen, daß man auf seiten der Regierung erneut in die herkömmliche Agententheorie zurückfällt und verbreitete Protesthaltungen auf den Einfluß kleiner extremer Gruppen und die Tolerierung durch Frau Griefahn zurückführt.

Hinter dem Bewußtsein der tragenden Gruppen der Bundesrepublik, eine der forschrittlichsten demokratischen Gesellschaften zu repräsentieren, verbirgt sich daher allzuoft eine gouvernementale Einstellung, die die Verfassung nicht als Freiraum, sondern als Disziplinierungsinstrument begreift und zu benützen sucht. Die Besorgnis, daß eine autoritäre Mentalität, die der Ordnung den Vorzug vor der Freiheit einräumt, in Deutschland wieder Platz greift, ist nicht von der Hand zu weisen, auch wenn sie weit davon entfernt ist, barbarische Formen anzunehmen, wie dies im Dritten Reich der Fall war. Gouvernementale Einstellungen, die quer zu der Forderung nach größerer Bürgerbeteiligung stehen, gewinnen schleichend an Boden und gefährden langfristig den demokratischen Prozeß, indem sie den einzelnen zum Objekt eines parlamentarisch immer weniger kontrollierten Verwaltungshandelns machen.

Es ist in der Bundesrepublik üblich, auf das demokratische Rechtsstaatsprinzip zu verweisen, das sich unterderhand allzuleicht in den Grundsatz bloßer Rechtsförmigkeit und Gesetzmäßigkeit verwandelt und Protesthaltungen ausgrenzt. Die Neigung zur Perfektion rechtlicher Regelungen kann sich, wie die Handhabung des Ausländerrechts in der Bundesrepublik allzuoft zeigt, gegen die Betroffenen, ja gegen die Bürgerfreiheit selbst wenden, die durch dieses Prinzip gerade geschützt werden soll.

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß der Rechtsstaatsgedanke in Deutschland nicht zuletzt die Funktion gehabt hat, das Widerstandsrecht zu ersetzen, das die deutsche Staatstradition im Unterschied zu Frankreich und England nie gekannt hat und das im Grundgesetz zu einer Garantie des bestehenden Verfassungszustands verkümmert ist. Hierin lag die grundlegende Abweichung des deutschen Liberalismus vom Westen, die der amerikanische Historiker Leonhard Krieger mit dem Begriff der „deutschen Idee der Freiheit“ umschrieben hat.

Die Gefährdung unserer demokratischen Ordnung, die sich auf einen breiten Konsens abstützen kann, kommt daher weniger von rechts- oder linksextremen Bestrebungen, sosehr politische Hygiene es erfordert, diese zu bekämpfen und insbesondere neo- und postfaschistischen Tendenzen entgegenzutreten, was freilich nicht zum Alibi der Bundesregierung für ausbleibende Konfliktlösungen in der Ausländerfrage werden darf. Die Gefährdung kommt vielmehr von der Mitte, entspringt der stillschweigenden Herrschaft der in immer geringerem Umfang parlamentarischer Kontrolle unterworfenen staatlichen Verwaltungsapparate, die nicht davor gefeit sind, wieder zur alten Selbstherrlichkeit zurückzukehren und sich als Träger der Staatsmacht zu begreifen.

Demgegenüber dürfte eine Wiederkehr rassistisch-antisemitischer Tendenzen auf die Dauer keine ernsthaften Chancen haben, wenngleich die militanten Formen der Ausländerfeindschaft nicht bagatellisiert werden dürfen und das Gewaltpotential in der deutschen Gesellschaft, das heißt die Bereitschaft, politische Konflikte gewaltsam zu lösen, noch immer erstaunlich hoch ist.

Beunruhigend ist der Gleichmut, mit dem die politische Öffentlichkeit die Frage der Asylsuchenden angeht und sich mit bloßer Ausgrenzung zufriedengibt. Abgelehnte Asylbewerber zum Teil jahrelang in Abschiebehaft zu setzen ist schwerlich hinzunehmen. Ebenso ist die sich durchsetzende Tendenz, Kriminalisierungsmaßstäbe ausländischer Regierungen diplomatischer und politischer Bequemlichkeit halber zu übernehmen, wie das in der kurdischen Frage offensichtlich der Fall ist, zu beklagen. Immerhin findet dies bei großen Teilen der öffentlichen Meinung keine Zustimmung.

Anders als vor 1933 gehen potentielle Gefährdungen der demokratisch-parlamentarischen Ordnung heute nicht den Weg des Aufbaus populistischer Massenbewegung, sondern bestehen in einer schrittweisen Penetration des politischen Systems mit Verhaltensweisen und bürokratischen Strukturen, die die Partizipationsbereitschaft der Bürger lähmen und ihre Bereitschaft zu öffentlichem Engagement herabsetzen. Damit ist auch gesagt, daß ein einfacher Rückfall Deutschlands in politische Bedingungen, die eine Wiederkehr von Gewalt und Terror bedeuten würden, wie sie die NS- Herrschaft charakterisierten, unwahrscheinlich, ja unmöglich ist, zumal die Einbindung in die Europäische Gemeinschaft nationale Alleingänge ausschließt.

Insofern bedeutet das Ende des Zweiten Weltkriegs die Befreiung der Deutschen zur Demokratie, auch wenn in der Konstellation des 8. Mai 1945 Desorientierung, Zukunftslosigkeit und das Absinken auf die Kategorie des bloßen Überlebens überwogen und die Deutschen vorübergehend eine Flucht aus der Geschichte vollzogen.

Andererseits wird man sich darüber im klaren sein müssen, daß die demokratischen Systeme und ihre sozialen Ordnungen im Zuge eines verstärkten Einwanderungsdrucks, der durch das Entwicklungsgefälle zur Dritten Welt und zu Teilen Osteuropas hervorgerufen wird und durch Einwanderungsrestriktionen nur begrenzt aufgehalten werden kann, vor schwierige Belastungen und Herausforderungen gestellt werden. Das zeigt aber auch, daß die Konstellationen des herkömmlichen Europa, die für die Zeit der beiden Weltkriege bestimmend waren, durch eine grundlegend neue Situation abgelöst werden, die historisch abgestützte Prognosen ungemein erschwert.