Touren des Grauens

Die kreative Risikogesellschaft sucht sich ständig neue Thrills. Der Clou ist Radeln. Per Rad durch deutsche Innenstädte, das heißt vor allem eins: Risiken im Kampf gegen gummibereifte Blechdosen. Ein Leidfaden  ■ Von Bernd Müllender

Früher gab es für den Nervenkitzel russisches Roulett. Doch der Mensch ist ein Nimmersatt. Und so erwies sich das Spiel bald als langweilig oder nur mit einmaliger finaler Abwechslung. Dann suchte sich die kreative Risikogesellschaft neuen Thrill: Gleitschirmspringen, Speedski oder Bungy-Jumping. KennerInnen aber wissen: Der Clou ist Radfahren in deutschen Innenstädten.

Seit einigen Jahren will plötzlich jeder radfahren. Das Geschäft mit dem Zweirad blüht – selbst kritische Zeitungen bringen heute schon Eigenmarken heraus. Nur wo soll man fahren? Etwa auf den Straßen, wo das Vierradblech der Automanen regiert, im Wald, auf Fußwegen? Oder nur im Urlaub, allein bei den Nachbarn in Holland? Radwegnetze gibt es hierzulande nicht, Radwege höchstens bruchstückhaft. Mit kommunal- und landespolitischen Auswirkungen: Bastelt eine Stadt mehrere solcher Alibieckchen, darf sie sich schon „fahrradfreundliche Stadt“ nennen. Das gibt Landeszuschüsse für die nächsten Alibieckchen.

Radfahrer sind hochgefährdete Transportgüter auf zeitgemäß ökokorrekten Transportgeräten. Aber: Räder sind zwar für Städte hochgeeignet, nicht aber umgekehrt. Und so sind millionenfach opferbereite Pedalcowboys und -girls, MasochistInnen und SuizidkandidatInnen unterwegs. Dabei ist das Aufregendste, was ihnen in deutschen Großstädten zustoßen kann, nichts anderes als ein Radweg. Das ist leicht zu belegen:

1. Farbversuche

Sie finden sich gern auf den heute sehr beliebten neugebauten boulevardähnlichen Radwegen, sind einige hundert Meter lang, gern rot gepflastert oder rot gepinselt. Hier kommt es zu ersten Konfrontationen – mit Fußgängern! Der Deutsche ist ein farbenblinder Mensch und weiß folglich mit dem Rot der Radwege nichts anzufangen, außer darauf zu gehen. Ist die Radrotkomposition neben der Autofahrbahn angelegt, liebt sie der beengt lebende Autofahrer als Parkraum oder Ausstiegshilfsfläche. Sind solche Radboulevards auch noch in beide Richtungen befahrbar, lernt der Radfahrer schnell einen dritten Kontrahenten kennen, den frontalen anderen Radfahrer.

2. Radwegepatchwork

Modernes Radwegepatchwork unserer Städte besticht durch das unvermittelte Ende seiner Teilstücke. Hier steht gern' ein Ampelpfahl als Bremse, dort eine Bushaltestelle für Fußgänger, die einen etwaigen Aufprall fürsorglich abfedern könnten. Gern stellt sich hier auch, im Niemandsland zwischen Rad- und Autoterrain, zur Verdeutlichung der Herrschaftsverhältnisse, ein parkendes Auto quer. Radgänger umschiffen solche Klippen jedoch mühelos.

3. Kurvige Abbiegespuren

Für Radler auf dem Autoasphalt sind sie von meist aufwühlender Ästhetik. Ein Beispiel: Wohlgeformt führt ein Radrotmosaikstreifen in Linkskurve auf beinah 40 Metern Länge bis zu der Stelle, wo er kühn und unvermittelt endet – und die Autoschlange nach dem Radfahrer schnappt. Wer hier noch überlebt, findet vielleicht schon 100 Meter weiter ein neues Mosaikstück, das sich am Ende sogar harmonisch verjüngt, bevor es kurz darauf in die ohnehin schmale Autospur eingleitet, wo die Autoschlange nach dem Radler schnappt. Diese Radpisten-Kompositionen sind in kommunalpolitischer Freiheit optisch immer unterschiedlich gestaltet. Die Verleihung der Wege-Gestaltungspreise an die kreativsten Beamten läuft bundesweit seit jeher geheim.

Die designfreie Variante des endenden Radweges präsentiert sich gern auf älteren Wege-Modellen, wenn es vorwarnungslos auf dem Fußgängerweg weitergeht. Dieses Kooperationsmodell erleichtert die Kontaktaufnahme zu flanierenden Rentnerpaaren, spielenden Kindern und plötzlich aus den Hauseingängen herausstürzenden Menschen. Wenn es an solchen Stellen nur leicht bergauf geht, sind wir nachsichtig: Wir wissen, hier waren (überge-)wichtige Behördenplaner in weiser Menschenkunde davon ausgegangen, daß eh jeder freiwillig schiebt. Als sie in ihrer Jugend zuletzt auf einem rostigen Hollandrad saßen, war die Gangschaltung noch nicht erfunden.

4. Klassische Integration

Die Radwegebaukunst ist klassisch integrativ, wenn sie organisch gewachsen ist und harmonisch Laternenpfähle, Stromkästen, Bushaltestellen und Schlaglochwiesen eingefügt sind. Unerforscht ist noch, warum alle Arten von Radwegen ihre BenutzerInnen unsichtbar machen, Begegnungen mit anderen VerkehrsteilnehmerInnen somit immer zu großer Überraschung geraten. Klar ist jedoch, daß die plötzliche wie unerhörte Erscheinung eines Radlers beim Kontrahenten stets einen spontanen wie massiven Aggressionsabbau auslöst. Wir wissen es längst: Radfahren ist psychosozialer Dienst am nächsten.

5. Ökologische Integration

Die mehrheitlich in Außenbezirken plazierten Stadtbiotope mit gemischtem Untergrund (Kies, Steinbrocken, Rasenstücke, Astgabeln, Wurzelwerk) sind ökologisch integrativ. Sie stellen höchste Ansprüche und gelten heute als moderne Versuchsstrecken für Mountainbiker, damit diese – welch' naturfreundliche Überlegung – nicht in den Wald zu fahren brauchen oder schon vorher verunfallen. Wer einparkende Autos oder Glasscherbenhaufen zu spät sieht, muß eben sich oder den Reifen flicken. Beinaheunfälle mit Bäumen oder plötzlich kreuzenden City-Dackeln auf Gassitour sorgen für ausgiebigen Adrenalinausstoß und sind für die mentale Vorbereitung auf innerstädtische:

6. Sandwich- Nichtwege

Sie sind von unschätzbarem Wert. Sandwich-Nichtwege finden Sie in Städten, die sich, womöglich noch rot-grün geführt, der freien Fahrt für freie Busse verschrieben haben. Hier wachsen immer neue Busspuren neben den Autospuren. Pedaltreter gehören dazwischen. Wohin auch sonst? Wer einmal durch solch ein Blechnetz fuhr, den kann nichts mehr schrecken: Rechts die Busse, links die Autofahrer, verärgert ohnehin, daß ihnen im Vergleich zu früher die halbe Rennpiste gestohlen wurde. Autolenkers Antwort an das Verkehrshindernis: Hupen, Drängeln, Schneiden. Die Alternative: Busspur benutzen. Das macht ein jeder nur solange, bis einem einmal solch ein Bus-Monster dröhnend am Rücklicht klebte. Denn merke: Auch städtische Busfahrer sind niemals Freunde des Radlers. Ganz streng rechts auf der Autospur fahren, rächt sich, wenn rechts der Bus vorbeibraust und gleichzeitig das Auto links. Wer diesem Sandwichdasein entgehen will, pocht auf den gesetzlich erlaubten Abstand von einem Meter zum Fahrbahnrand. Das erschwert der Blechbüchsenarmee das Überholen, kann aber schon mit dem ersten schulternahen Metallicwind beendet sein. Oder der Rest der Strecke wird gleich ebenfalls im Auto zurückgelegt – hinten liegend, mit Blaulicht.

7. Kreuzungen

Kreuzungen bieten Aufgaben für Fortgeschrittene. Auch für innovative Verkehrsplaner. Manches Extra-Radrot kurz vor einer Ampel zeigt bei Grün auch dem versierten Radfahrer seine intellektuellen Grenzen auf: Biegt er rechts ab – kracht's. Biegt er links ab – kracht's. Also bleibt nur der Weg geradeaus. Das heißt dann Verkehrslenkung und ist sehr angesehen.

Anders verhält es sich bei Versuchen nach angelsächsischem Vorbild, Ampelgrün für Nichtautos in alle Richtungen gleichzeitig zu geben. Euphemistisch heißt das „konfliktfreie Schaltung“. Sie funktioniert so: die Fußgänger freuen sich und gehen gutgläubig voran. Die Radfahrer freuen sich auch und fahren ebenso gutgläubig voran. Zusammenstöße zählen zur konfliktfreien Ausschaltung von ohnehin viel zu vielen Verkehrsteilnehmern. Merke: Wo schon das Radwege-Rot voll hinterhältiger Tücke ist, bedeutet auch das Ampel-Grün nichts.

8. Verkehrseintöpfe

Ein Nonplusultra-Kick. Dies sind jene Bereiche, wo sich – wohlgemerkt auf extra markierten Radwegen innerstädtischer Kernbereiche – parkende Autos, einfahrende Autos, ausfahrende Autos, querende Käuferhorden, flanierende Pärchen im Liebesstadium der völligen Unaufmerksamkeit sowie slalomfahrende Radfahrer zum definitiven Verkehrslabyrinth verzahnen. Hier wird bei Durchradeln Russisch-Bungy und Radl- Surf in einem geboten.

Unvermittelt aufgerissene Autotüren links. Rechts Auto crossing in die sogenannte „Fußgängerzone“. Abgestellte Mülltonnen vor Kurve. Wendender Lkw hinter Kurve. Vielfältiger Menschenwechsel beidseitig. Wo Ausweichecken wären, haben sich Poller versammelt. Und dazu noch mehr Radfahrer, immer mehr. Das ist nur etwas für unerschütterliche Verkehrsdarwinisten, geschult durch langes Training auf den klassischen Horror-Radpisten. Wer hier nicht seinen Erstunfall schafft, zumindest kleinere Kollisionen übt, gehört abgesattelt.