Der Himmel über Berlin

■ Auch in Berlin haben protestierende Anwohner manchen Erfolg errungen

Milliardenschulden, das Mitleid der Republik, die Bonner Bettelgänge der Senatoren – das Berliner Selbstbewußtsein ist mächtig angeknackst. Abends an den Theken, das Pils fest im Blick, wird aufgerichtet und aufgerechnet. München und seine Biergartenkultur? Da kann Guido Albrecht, 25jähriger Fliesenleger aus Ostberlin, an der Theke im „Georg-Bräu“ im Bezirk Mitte nur losschnoddern: „Na gut, ist ja ganz schön dort, aber bei uns kannste eben dafür länger saufen, wennde willst.“ Ein krasses Fehlurteil, geboren im Suff Berliner Überheblichkeit. Zwar gilt für Kneipenräume keine Sperrstunde – außer zwischen 5 und 6 Uhr morgens. Doch unter freiem Himmel herrschen stellenweise Verhältnisse wie in Großhesselohe bei München. Der Inhaber des „Georg-Bräu“, Peter Härig, zugleich Präsident der Berliner Hotel- und Gaststätten-Innung, kann ein Klagelied über Bezirksämter und Nachbarn singen. Im Sommer heißt es auf Härigs Terasse: Um 22 Uhr die Stühle hochstellen.

Vor zwei Jahren brach ein Sturm der Entrüstung los, als die Senatsverwaltung für Umweltschutz die bis dahin rigide Lärmverordnung für Biergärten lockerte. Seitdem gilt: Unter freiem Himmel darf nach 22 Uhr nur dann nicht mehr ausgeschenkt werden, wenn die Störungen einen „unvertretbaren Umfang“ annehmen. Die neue Freiheit hält jedoch reichlich Schutzklauseln für Anwohner bereit. Vor allem in Ostberlin wird auf den Erhalt der aus DDR-Zeiten gewohnten Ruhe geachtet. Im Nicolaiviertel, Wohnort vieler verdienter SED-Mitglieder, waren die Anwohner mit ihrem Protest erfolgreich: Ab 22 Uhr herrscht hier eine Stille wie früher nächtens an den Grenzabfertigungsstellen.

Dabei waren es einst die Sowjets, die nach dem Ende des Krieges einen Sperrstunden-Wettkampf auslösten. Während im Westen anfangs um 21 Uhr dicht gemacht werden mußte, gab sich die Rote Armee liberal und sattelte in ihrer Zone eine Stunde drauf. Die Folge war ein Trinkerstrom von West nach Ost und zurück. Der Westen ließ sich nicht lumpen und legte nach. Bis 1949 der damals 33jährige Heinz Zellermayer, Obermeister des Westberliner Hotel- und Gaststätten-Verbandes, das absurde Wettrennen mit einer einfachen Idee beendete: Warum nicht die Sperrstunde abschaffen? Die West-Alliierten stimmten zu – Berlins touristische Hauptattraktion war geschaffen.

Rund 7.000 Restaurants, Kneipen und Imbißstuben zählt die Hauptstadt heute – eine beeindruckende Dichte, die von Jahr zu Jahr zunimmt. Autogestank, Lärm und laute Musik haben die Nerven so manches Westberliners reichlich strapaziert. Wo immer sich Kneipenbesitzer um eine Konzession für den Garten- oder Straßenausschank bemühen, formieren sich die Betroffenen. Kein Thema erregt derart die Gemüter wie das freie Trinken unter einem freien Himmel. Als der taz-Lokalteil vor zwei Jahren gegen Münchener Zustände in Berlin anschrieb, löste er eine wahre Flut von Leserbriefen und Anrufen aus. Manch einer sah gar schon die taz auf der „Payroll“ der Gaststätten-Innung. Ein Leser wollte es schon ein bißchen genauer wissen: Wann denn der Herr Redakteur überhaupt aufstehen müsse? Severin Weiland