Programmierter Selbstmord der Zellen

■ Ein Protein entscheidet über das Wachstum oder Absterben von Körperzellen

Das Drama spielt sich Tag für Tag millionenfach in jedem Menschen ab. Hauptdarsteller sind unsere Körperzellen: Sie begehen Selbstmord oder werden in den Selbstmord getrieben. Diese zelluläre Selbstvernichtung ist in den letzten Jahren zu einem Hauptinteresse der medizinischen Forschung geworden. Wissenschaftler erhoffen sich neue Erkenntnisse über Krebs, Aids, Alzheimer und viele andere Krankheiten.

Um ein harmonisches Zusammenleben aller Zellen in einem Organismus zu gewährleisten, muß die Menge einzelner Zelltypen genau reguliert werden. Niemand darf sich auf Kosten anderer breitmachen. Unkontrollierte Zellwucherungen sind nichts anderes als die gefürchteten Krebstumore. Im gesunden Organismus wird daher die Vermehrungsrate der Zellen exakt gesteuert. Dieser Zusammenhang ist Medizinern schon lange bekannt. Neu ist jetzt die Erkenntnis, daß neben der Wachstumsrate auch die Todesrate eine wichtige Rolle im Miteinander der Zellen spielt.

Werden die Zellen nicht mehr gebraucht, durchlaufen sie ein regelrechtes Selbstvernichtungsprogramm und machen so anderen Zellen Platz. Bei diesem Vorgang, der als Apoptose bezeichnet wird, zerstückeln sie ihre eigene Erbinformation und verdauen sich praktisch selbst. Zurück bleiben nur einige Fetzen, die von Nachbarzellen verschlungen werden. Das amerikanische Wissenschaftsmagazin Science hat jetzt die Fakten, welche in den letzten Jahren über die Apoptose gesammelt worden sind, zusammengefaßt.

Die medizinische Bedeutung des programmierten Suizids läßt sich erst ansatzweise abschätzen. Zum Beispiel findet man in vielen Krebstumoren eine verminderte Bereitschaft der Zellen, sich selbst zu eliminieren. Sie weigern sich praktisch, ihrem Selbstmordprogramm Folge zu leisten. Der Mechanismus, wie sie das erreichen, ist jetzt teilweise aufgeklärt: Die Krebszellen produzieren besonders viel BCL-2-Protein. Dieser Stoff wirkt wie ein Lebenselixier – er kann den Selbstmord verhindern. Mediziner wollen jetzt versuchen, mit Medikamenten die BCL-2-Produktion in den Zellen zu drosseln. Ein Tumor würde sich dann vielleicht einfach selbst vernichten.

Auch in der Aids-Forschung arbeiten Wissenschaftler jetzt an dem Phänomen der Apoptose. Das Immunschwäche-Virus HIV tötet im Körper vor allem einen bestimmten Typ von Zellen. Diese sogenannten T-Helferzellen sind für die Funktion des Immunsystems unentbehrlich. Neue Ergebnisse lassen nun vermuten, daß HIV die T-Zellen nicht direkt tötet, sondern ihr Selbstmordprogramm aktiviert. Die Zellen werden quasi in den Selbstmord getrieben. Könnte man das gezielt verhindern, so wäre man auf dem Weg zu einer wirkungsvollen Aids-Therapie schon ein gutes Stück weiter.

Was auch immer die weiteren Forschungen bringen werden – die Entdeckung des zellulären Selbstmords zeigt wieder einmal, wie komplex das Leben der Zellen ist. Matthias Selbach