Wie ein Hund vor dem Haus

Im Sonnenuntergang mit der Ambulanz durch San Francisco: In Allie Lights Porträt-Dokumentarfilm „Dialogues with Mad Women“ lassen sieben Ex-Psychotikerinnen ihre Symptome spielen / Wer wahnt, gewinnt?  ■ Von Mariam Niroumand

Wenn Amerikaner sich fragen „Wo warst du, als John F. Kennedy erschossen wurde“, geht es um mehr als bloßes Etablieren biographischer Koinzidenzen. Man versichert sich irgendwie auch eines gemeinsamen inneren Erlebens: Egal, wo oder was du damals warst, wir fühlten dasselbe. Die Frage funktioniert fast wie ein kurzer Gruß an die Unabhängigkeitserklärung und ihren Glauben an die Gleichheit der Menschen; ist das Kollektiv betroffen, reagiert man unisono.

Allie Light, die Regisseurin von „Dialogues with Mad Women“ hat vor dieser Frage jahrelang Angst gehabt, weil sie nämlich in einer psychiatrischen Klinik war, als es passierte. Sie war gerade im Aufnahmegespräch mit dem Diensthabenden, als ein Irrer angelaufen kam und „The President has been killed“ rief, worauf der Arzt bloß „sure, sure“ murmelte, um dann achselzuckend ihr Gespräch fortzusetzen.

Wahrscheinlich konnte etwas wie „Dialogues with Mad Women“ nur aus San Francisco kommen. „Liebe dein Symptom wie dich selbst“ ist das Fazit, das hier aus den Erzählungen von sieben Frauen gezogen wird, die in verschiedenen Momenten ihres Lebens aus dem Kollektiv ausgeschert und in die Psychose geflüchtet waren. Alle Beteiligten – Hannah, Karen, Joe Wong, Deedee und die anderen – sind irgendwie anhippisiert.

Bei Karen zu Hause durfte man nur nackt herumlaufen, als Teenager hat sie nie ein einziges Mal die Badezimmertür verschließen dürfen. Deedee mußte mit Mutter auf eines dieser entsetzlichen Love-ins mit Schwitz-Zelten, Handauflegen und dem Herbeitanzen des Gott- sei-bei-uns. Beim Sprechen über „Zustände“ hallen Jerry Rubins oder Norman O. Browns schwingende Reden nach: „The world went awayyyy“.

Deedee erzählt von einer Therapeutin, die sie aufsuchte, als sie bei etwa der stattlichen Zahl von 25 abgespaltenen Persönlichkeiten angelangt war. „Ich sagte zu ihr: Ich glaube, da ist ein Mädchen namens Glenda, und Glenda möchte sprechen. Sie: Was können wir tun, um Glenda zu treffen? Ich sagte, ich wüßte es nicht. Da nahm sie einen Stuhl, stellte ihn zwischen uns, und dann muß ich wohl rübergerückt sein und mit Glendas Stimme gesprochen haben. Sie hat mir nachher erzählt, daß Glenda sehr nett ist und von Laureen gesprochen hat, die auch gern reden würde ...“

So zeichnete Deedee eine Art Schaltskizze der 25 Leute, die sie damals war, und trug bei der Therapeutin Informationen über jede einzelne zusammen; die eine, die den sexuellen Mißbrauch erlebt hatte, die andere, die ihre Mutter geschlagen hatte; wieder eine, die sich gern amüsieren ging, und so weiter. Ich-werden hieß also für Deedee, eine Art Konferenzschaltung der 25 einzurichten. Weihnachten vor ein paar Jahren haben sie sich alle gegenseitig beschenkt. Wo warst du, als Kennedy ermordet wurde. Geschichten, wie die sieben sie mit sich herumtragen, schreibt nicht mal das Leben. Eine „matrix of miseducation“ zieht vor den Augen des Betrachters auf. Höchstens Carson McCullers könnte sich etwas ausdenken wie „ich sollte vor dem Haus schlafen, auf einem Stapel Zeitungen, und bellen wie ein Hund, denn mein Vater fand, ich sei ein Hund“. „Morgens nahm ich manchmal, um ganz wach zu werden, ein Messer und schnitt mir tief in die Schulter.“ „Als ich nackt in der Aufnahme saß, stand der Arzt hinter mir und fragte mich, ob ich gern den Penis meines Mannes küsse. Hätte ich ,nein‘ gesagt, hätte er mich für frigide gehalten; hätte ich ,ja‘ gesagt, wäre ich doch eine Hure gewesen in seinen Augen.“

Von da ab, so sagt Light, deren eigene Geschichte Teil des Films ist, habe sie gewußt: Wer das Konzept „Metapher“ nicht versteht, ist verloren. Deshalb bluten in ihrem Film die Schlüssellöcher, Türen fallen mit eiserner Endgültigkeit zu, Höllenchöre donnern. Metapher, Symptom: für Light und ihre Protagonistinnen ist noch nicht geklärt, wer wen aus der Sprache vertreiben wird. Zum Teil spielen die Akteurinnen ihre Erlebnisse nach: Was ist das? Spiel?

Wahnsinn hat im Kino ein ähnliches Darstellungsproblem zu überwinden wie die Shoah oder der Orgasmus: Narrativ ist ihm ebensowenig beizukommen wie durch abstraktes Umkreisen. Wer sich noch an die herunterschnellenden Gitter in „Ich hab' dir nie einen Rosengarten versprochen“ erinnert, die stets aufs neue den Rückzug der Protagonistin in ihre Schizo-Welt mit den lustigen Lehmännern und Ritterrüstungen signalisierten, wird wissen, wieviel mißlungene Versuche es gab. Warum war Polanskis „Mieter“ so viel erfolgreicher?

Light (schöner Name überhaupt) hat – auch wenn der Vergleich ihn grausen würde – zu einer ähnlichen Technik Zuflucht genommen wie Claude Lanzmann. Indem die Protagonistinnen ihre Symptome spielen lassen (ein für sie nicht ungefährliches Unterfangen), holen sie sie zugleich heim und exorzieren sie im selben Moment als etwas Manipulierbares. Hannah in ihrem rumänischen „Flip-out“-Kostüm bestreut sich mit Lametta und zeigt den öffentlichen Liebesbrief, den sie damals an Bob Dylan schrieb, als sie der Überzeugung war, Joan Baez sei weiß Gott nicht die, mit der Dylan die neue Weltordnung ausrufen sollte. Beim Zuschauer bedient diese Methode sowohl Voyeurismus (wer wollte nicht hören, wie sich Irresein von innen ausnimmt), als auch diverse Formen der Einfühlung.

Hauptsächlich aber „gehört“ der Film den Wahnsinnsfrauen: Ihnen steht es zu, die Tatsache zu feiern, daß sie zurückgekommen sind von der anderen Seite, und so verblüfft es gar nicht, daß aus dem Symptom mit wenigen Kunstgriffen ein Ornament wird, etwas wie eine Schleife im Haar.

Jede Pädagogik liegt Light fern. Wenn sie Archivmaterial aus beforschten Irrenhäusern der dreißiger Jahre verwendet – die riesigen Schlafsäle mit den tanzenden Manikerinnen, die armen weißen Flügelhemden, wabernde Schizophrene, die aus ihrer Ecke Zeichen geben – dann nicht, um zum Kampf für die Opfer der Psychiatrie zu agitieren. Die Ausschnitte funktionieren hier mehr wie ein Gruß an die Schwestern von damals.

Die sieben haben Light auch Fotos zur Verfügung gestellt: Deedees Vater ist tatsächlich ein Henker, jeder kann es sehen. Eine der Protagonistinnen hatte noch Stücke von einem Homemovie, das sie von ihren Kindern beim Spielen gedreht hat, bevor sie zuviel Angst bekam, sie könne ihnen etwas antun. Karen war mit 15 jemand, mit dem schlafen konnte, wer auch immer gerade wollte; und wer ihre Fotos gesehen hat versteht, warum das sehr viele wollten.

Es wäre kein Film aus San Francisco, wenn er nicht auch als Kassiber für eine sympathische Art von Lesbenkitsch funktionieren würde. Zarte Mädchenblütenträume, die Suche nach dem weiblichen Stammbaum bis zurück in die Pagliasche Archaik, das Auftreten von Karen als männliche Drag Queen (für das allein sich der Film schon lohnt) und die wabernden Nebel von Avalon, die immer wieder durch den Film ziehen, sind womöglich notwendig:

In diesem Reich, so die frohe Kunde, sortieren wir die Zeichen selbst.

„Dialogues with Mad Women“, Regie: Allie Light, Kamera: Irving Saraf, USA 1993, 90 Min.

Der Film läuft ab heute in einigen Berliner Kinos und ist ansonsten über die Edition Salzgeber, 030/ 793 41 81, zu haben.