Das Kapital der Kykladen

Die griechische Insel Syros hat kaum Badebuchten, dafür Hermoupolis, eine schöne Stadt mit maroder Werft und neoklassizistischer Architektur. Ein Yachthafen soll Touristen anziehen  ■ Von Uwe Wandrey

Mit einem dumpfen Schlag erwischt das Bass-Horn die Passagiere auf dem Bootsdeck. Dann ein langgezogenes, flatterndes Brummen. Wie eine melancholische Kuh heult unser Schiff, die „Express Olympia“, über die heitere Ägäis. Ein paar Touris fahren von den Bänken hoch, einer blinzelt über die Reling und winkt ab – wieder so ein grauer trostloser Felsbrocken. Ein Blick auf die Uhr, das kann nicht Paros sein, auch Naxos nicht oder Santorin. Man wälzt sich auf die andere Seite, lüpft das T- Shirt und schmort weiter in der Sonne.

„Attention please! In a few minutes we arrive at Syros.“ Unser Schiff kommt an das Ende einer Landzunge. Nach der zerklüfteten schroffen Felsküste jetzt eine weite, ringsum besiedelte Bucht. Lagerhallen, Fabrikgebäude, palastähnliche Anlagen an den Flanken. In der Mitte eine Front aus Kontor- und Speichergebäuden. Dahinter, an zwei Hügeln hochgestapelt, weiße und gelbliche Wohnwürfel, darauf je eine mächtige Kirche. Die ein protzt katholisch, die andere trotzt orthodox.

Die Stadt heißt Hermoupolis – Stadt des Hermes. Die Fähre passiert zur Rechten eine lange Mole, zur Linken ein massives rostrotschwarzes Schwimmdock. Knallgelbe Kräne darüber strecken ihre leeren Krakenarme in die Tiefe.

Die Olympia tastet sich mit dem Hintern an den Kai heran und macht fest. Zivil gekleidete Menschen mit Aktenkoffern, Plastiktaschen und Tüten tippeln über die Heckklappe an Land. Mit ihnen schlüpft auch ein Rucksackpärchen aus dem Schiffsbauch. Was suchen die hier?

Auf dieser Insel landet keiner zufällig. Die blauhimmeligen Prospekte hatten Syros bisher nicht im Programm. Die meisten Pötte aus Piräus lassen das kleine Eiland der mittleren Kykladen rechts liegen. Lange Zeit waren die Syrioten froh darüber, daß der Kelch des Massentourismus an ihnen vorüberging. Bis vor zwei Jahren konnten sie sich auch so ernähren.

1993: Die Neorion-Werft, ein fast hundertjähriger, moderner Schiffbaubetrieb und größter Arbeitgeber der Insel, schließt die Tore. Auftragsmangel und schlechtes Management sind der Grund. 1.200 geschaßte Schiffbauer finden sich auf der Straße wieder. Ausländischen Reedern, Werfteignern und anderen großen Fischen werden lukrative Angebote gemacht. Aber keiner will den Betrieb kaufen.

Jetzt stehen die Arbeitslosen nicht mehr auf der Straße, dafür aber Schlange am Schalter. Um eine Stütze abzuholen, die nicht mehr ist als ein Taschengeld. Was tun mit der Freizeit? Am Hafen haben drei Spielhöllen geöffnet. Mehrere Videotheken ergänzen das Angebot rund um die Uhr. Die Arbeitslosigkeit liegt bei fünfzig Prozent, einsame Spitze im griechischen Städtevergleich. Wer nicht darunterfällt, hält sich mit einem Laden über Wasser oder sitzt auf einem Posten in der Verwaltung.

Hermoupolis ist Sitz der Präfektur der Kykladen und der Bürgermeisterei über knapp 20.000 Inselbewohner. Die Beamten und Angestellten im Krankenhaus und im legendären Zentralgefängnis, das die linke Buchtseite beherrscht, haben mehr zu tun als je. Auch in den Gewächshäusern der Kykladen boomt es. Aber für die Metaller ist kein Job frei. Viele sind bereits abgewandert. Die öffentlichen Subventionskassen sind leer.

Wer durch die marmorgepflasterten schmalen Fahrwege der Unterstadt schlendert, vorbei an morschen verblichenen Holztoren und marmornen Balkonträgern, wer zu schmiedeeisernen Gittern, verfallenden Prunkfassaden und venezianischen Dachzinnen hinaufblickt, den versetzt die Zeitmaschine um ein Jahrhundert zurück. Woher dieses neoklassizistische Gebäude, dieses Apollontheater? Das Musen-Mausoleum wird gerade restauriert. Hundert Meter weiter das imposante Regierungspalais der Kykladen im gleichen neoantiken Touch. Wer der Uferstraße in den Norden der Stadt folgt, kommt in das Vaporia-Viertel mit den einstigen „Sommerhäusern“ der reichen Reeder, eine steinerne Revue patrizialen Selbstbewußtseins.

Von der Europäischen Union und aus der griechischen Landeskasse flossen Gelder, um die architektonischen Schätze der Stadt zu retten. Wenn nur die Hälfte des historischen Erbes restauriert ist, avanciert Hermoupolis zum Freilichtmuseum, einer Industrie- und Handelsstadt des 19. Jahrhunderts.

Eine prachtvolle Stadt, voller Geschichte. Und erfüllt von griechisch-normaler Gegenwart: Rush-hour, Stop-and-go und Mopedkrach, Krämer, Kafenions, Nachtbars und blondierte Damen, Kerle vom Kiez, Mofa-Mädels, Männer mit Scheitel und Brillantine, behende Herren mit Handy, Täschchen und Kettchen. Am Busstop die Tante vom Land. Am Pier ein verlorener Matrose.

Vor 150 Jahren hatten Seemänner mehr Arbeit: Ein Kupferstich von 1843 zeigt die Bucht von Hermoupolis randvoll mit Segelschiffen und Segel-Raddampfern. Auch die Schiffbauer hatten zu tun. Achtzig Prozent der griechischen Tonnage wurden in Hermoupolis gebaut. Fünftausend Handelsschiffe waren hier registriert. Während der vierhundertjährigen Türkenherrschaft in Griechenland, die mit dem Befreiungskrieg (1821–29) endete, genoß Syros einen Sonderstatus. Im Schnittpunkt der Seewege zwischen Europa und Orient war Hermoupolis einer der einträglichsten Steuerquellen des Sultans. Auch der sturmsichere Hafen mit seinen Lager- und Umschlagskapazitäten machte das Ankern attraktiv. Der muselmanische Fiskus war auf das Wissen der eingesessenen adelsähnlichen Archonten angewiesen. Denn diese, Kaufleute, Gutsverwalter, Anwälte, Ärzte und Dolmetscher, hatten fast alle eine europäische Bildung genossen. Der Sultan stattete deshalb die Insel mit Privilegien aus.

Doch auch der Papst hatte seine Hand im Spiel. Seit der venezianischen Herrschaft im späten Mittelalter hatten sich hier italienische Katholiken niedergelassen. Bei Ende des Befreiungskrieges waren die Insulaner Katholiken. In den Kriegsjahren standen ihre Bewohner unter dem Schutz der französischen Kirche. So fanden hier unzählige Flüchtlinge Unterschlupf. Während Hunderttausende auf dem Festland ihr Leben ließen, lief in Syros unter türkischer Obhut business as usual.

Als der Bayer Otto von Wittelsbach 1832 als zukünftiger König nach Griechenland kam und Athen noch ein Ruinendorf von dreitausend Seelen war, zählte Hermoupolis daher neben Nauplion, Spaetse und Athen zu den Hauptstadt-Kandidaten. Die Bayern widmeten sich mehr der Rettung der Antike, dem Militär und der Bürokratie als der Wirtschaft. Die Kaufleute und Baumeister von Syros hatten jetzt erst recht freies Spiel. Während die Athener Zentrale noch tief im Zeitalter des Absolutismus steckte, gewann Hermoupolis als wirtschaftliche Hauptstadt den Anschluß an den westeuropäischen Liberalismus. Dampfschiffe bunkerten hier Kohle, Fabriken und Kontore schossen aus dem Boden. 159 Kaufleute, 10 Konsuln, 12 Fotografen, 2 Tanzmeister, 59 Schneider, 4 Buchhändler machten ihre Drachme. Universität, Gymnasien, Literatur- und Kunst-Clubs, Berufs- und Charitasverbände, Krankenhäuser, Kindergärten, wurden gegründet. Tanzbälle, Abendparties, europäische Frauenmode – die Insel bot ungewöhnliche Lebensqualitäten.

Mit dem Jahrhundert neigte sich auch die Belle Époque von Syros. Der Seehandel wurde seit 1896 über den Kanal von Korinth geleitet. Werftarbeiter und Handelskompanien wanderten langsam nach Norden ab. Als Bunkerstation, als Bau- und Reparaturplatz für Schiffe konnte sich Hermoupolis bis in die achtziger Jahre halten – mit immer röteren Zahlen.

In diesem Jahr fand sich eine griechische Werft aus Kalamata bereit, den Neorion-Betrieb zu übernehmen und in einem mehrjährigen Stufenplan wieder bis zu 600 Beschäftigte einzustellen, aber noch gibt es keine nennenswerten Aufträge.

Das Kapital der Kykladen – das wissen auch die Syrioten – sind die Sonne, der blaue Himmel und – das saubere Meer. Deshalb gibt es neue Pläne. Hinter der Werft, dort bei der Fabrikruine, soll eine Marina, ein piekfeiner Yachthafen mit maritimen Läden und Werkstätten entstehen. Aus dem ominösen Zwinger (neoklassizistisch) wird ein Spielkasino.

Syros – ein Geheimtip? Immerhin: noch rollt die Kugel nicht, noch stimmen die Preise.