Appell zur Rückkehr

■ Marcia Haydée, Direktorin des Stuttgarter Balletts, feierte ihren Abschied von der Bühne in ihrer Heimat Rio de Janeiro

Alter ist Ansichtssache. Jedenfalls für die Primaballerina Marcia Haydée. Voller Eleganz und in exzellenter physischer Form verabschiedete sich die 58jährige Brasilianerin, Direktorin des Stuttgarter Balletts seit 1976, am vergangenen Wochenende in ihrer Heimatstadt Rio von der Bühne. Tanzend, versteht sich, mit ihrem langjährigen Stuttgarter Partner Richard Cragun.

Ob nachts im Scheinwerferlicht unter freiem Himmel am Strand oder im mit weinroten Samtsesseln und Kristallüstern ausgestatteten „Teatro Municipal“ – Marcia Haydées Abschied ist ein Höhenrausch. Noch einmal benutzt die gebürtige Carioca, wie sich die Einwohner Rios nennen, ihren Partner als Stütze für ihre exakt austarierten Bewegungen, noch einmal wirft sie sich ihrem Exmann zu Füßen, klammert sich an seine Knie, läßt sich über die Bühne schleifen, um dann mit ihm zu einer grandiosen Skulptur zu verschmelzen, ganz und gar Ästhetik in Bewegung.

Das Publikum will ihren letzten Pas de deux noch einmal hinauszögern. „Sie wird sich den eindringlichen Appellen zur Rückkehr nicht verschließen können und dann und wann nachgeben“, prophezeit die ehemalige Leiterin des „Teatro Municipal“, Dalal Achcar. Die Diva selbst beteuert, daß es sich bei ihrem Abschied „nicht um eine Rente im herkömmlichen Sinn handelt. Ich meine nur, daß es für bestimmte Rollen, zum Beispiel Romeo und Julia, eine gewisse Altersgrenze gibt.“

Marcia Haydées Debüt als Julieta liegt wahrlich weit zurück. Bereits im Jahr 1962 schuf Ballettmeister John Cranko eigens für die junge Tänzerin eine Choreographie des Klassikers.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Haydée sowohl die „Royal Ballet School“ in London als auch die Pariser Tanzkompagnie „Marques de Cuevas“ bereits hinter sich gelassen. Seit 1960 gehört sie dem Ensemble des Stuttgarter Balletts an.

Die Leitung des renommierten deutschen Tanztheaters übernahm Haydée 1976. Und auch nach ihrem Abgang bleibt das Ensemble fest in brasilianischer Hand: Bei Beethovens „Siebter Sinfonie“, choreographiert von Uwe Scholz, zeigte Vortänzerin und „Erbin“ Beatriz de Almeida bereits ihr Können.

Neben der neuen Direktorin stammen drei weitere Mitglieder des Stuttgarter Balletts aus Brasilien. Bei Ratschlägen allerdings für die Karriere junger Brasilianerinnen, die sich heute wie sie vor 42 Jahren nach Europa aufmachen, ist die gebürtige Carioca weniger euphorisch, als sie es bei ihrem eigenen Aufbruch einmal war. „Einerseits ist es heute leichter, weil die Leute professioneller und die Mädchen mit 16 Jahren wesentlich reifer sind“, erklärte sie gegenüber der brasilianischen Zeitung Jornal do Brasil. Aber die technischen Anforderungen seien immens. „Ich weiß nicht, ob ich heute eine Chance hätte“, meint sie selbstkritisch. Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, daß Marcia Haydée ihren zahlreichen Verehrerinnen aus Brasilien auch in Zukunft beim großen Karrieresprung behilflich sein wird. Denn nach 35 Jahren Ballett in der schwäbischen Metropole ist Deutschland zu ihrer zweiten Heimat herangewachsen.

„Wie in einer Ehe kommt der Moment, wo die Liebe aufhört und auf einer anderen Ebene neu beginnt“, vergleicht die in dritter Ehe verheiratete Tänzerin ihr Verhältnis zur Kompagnie. „Meine Hingabe zum Ballett ist ungebrochen. Doch ich brauche keine Bühne und keinen Schreibtisch mehr.“ Astrid Prange