Nicht die Prozente, die Folgen sind das Spektakuläre

■ Die Republik steht seit der Wahlnacht von Düsseldorf vor der Alternative, auf die sie im „Superwahljahr“ '94 vergeblich gewartet hat: „Weiter so“ oder Rot-Grün

Fast nichts hat sich „objektiv“ geändert, aber alles ist anders geworden in den letzten Tagen. Die Bündnisgrünen haben in Nordrhein-Westfalen knapp 50.000 Stimmen mehr bekommen als bei der Bundestagswahl ein halbes Jahr zuvor, und ein paar hunderttausend Rau-Anhänger sind diesmal nicht ins Wahllokal gegangen – die meisten keineswegs aus Protest, allenfalls müde der Ritualisierung von Politik. Mehr war nicht seit November. Aber in der Welt der Prozente war dies ein Erdrutsch mit anschließendem Dammbruch.

Wenn Menschen Situationen als real definieren, dann sind sie real in ihren Konsequenzen. Dieses bewährte Theorem erklärt auch das plötzliche Aufbrechen der innenpolitischen Szenerie. Das Besondere sind die Folgen, nicht das Ereignis selbst. Es bedarf nicht einer rot-grünen Regierung in NRW, um die landespolitische Regierungsfähigkeit der Grünen unter Beweis zu stellen. An ihr ist seit Wiesbaden, Hannover und Bremen nicht zu zweifeln. In grüner Binnenperspektive ist allenfalls interessant, ob zum zweiten Mal – nach Berlin – ein linker Landesverband scheitert.

Fürs Innenleben der SPD mag interessant sein, wie weit ein traditionalistischer Landesverband Rot-Grün (er)tragen kann. Spektakulär sind die Folgen: Düsseldorf und Bonn sind die Orte, an denen sich das rot-grüne Projekt entscheiden wird. Die Republik erhält jetzt die Alternative, auf die sie im Wahljahr vergeblich gewartet hat. Der Bundestagswahlkampf 1998 hat in der Wahlnacht von Düsseldorf begonnen. Die Alternative heißt „Weiter so“ oder Rot-Grün.

Scharping ist risikoscheu. Aber jetzt hat er den Mann gefunden, der ihm die Kastanien aus dem Feuer holt. Er kommt nicht los von ihm, er bleibt der Vater, der's ihm richtet: Johannes Rau. Der hat ihn schon ins Vorsitzendenamt gebracht. Nun soll er auch noch Rot- Grün in der SPD durchsetzen, gegen und mit dem rechten Flügel, den Traditionalisten und der immer abwartenden Mitte, die der Führungsdirektive folgt. Geht der Versuch in Düsseldorf halbwegs gut, bestimmt Rot-Grün die weitere Tagesordnung. Geht er schief, ist es ein Freibrief für eine Große Koalition, erst in Düsseldorf, dann in Bonn.

Es zeigen sich neue Horizonte, aber für Euphorie ist kein Anlaß. Wegen der Grünen, der SPD und der Union. Die Bündnisgrünen werden heute überschätzt. Aufgrund deutlich geringerer Wahlbeteiligung bei „Nebenwahlen“ erscheinen tüchtige Kleinparteien als stärker, als sie tatsächlich sind. Zu einer rot-grün orientierten SPD können auch die sozialdemokratischen WählerInnen zurückkehren, die die SPD mit den Grünen unter Druck setzen wollten. Ihre Standfestigkeit werden die Bündnisgrünen (und die Sozialdemokraten) in den nächsten Jahren beweisen müssen, wenn eine Gegenmobilisierung losbricht, gegen die die Rote-Socken- Kampagne nur eine harmlose Vorübung war.

Die Achillesferse der Bündnisgrünen ist die Außenpolitik. Ist der grüne Pazifismus vorbereitet auf einen von der UNO verantworteten und von ihr erwarteten Militäreinsatz der Bundeswehr? Wie beantworten die Grünen die doppelte Bündnisfrage: in der westlichen Allianz und im Regierungsbündnis? Parlamentarisierung der Entscheidung über Militäreinsätze heißt ja auch, daß die Mehrheitsfraktionen ihre Regierung gerade dann unterstützen müssen, wenn es ungemütlich wird. Die Alternative heißt Opposition. Es kann so kommen, daß die Bündnisgrünen in drei Monaten Bonner Regierung mehr lernen (müssen) als in den drei Jahren, die sie bis dahin noch haben.

Die SPD könnte auf 1989 zurückkommen, als sie sich in ihrem Grundsatzprogramm vornahm, „ein Reformbündnis der alten und neuen sozialen Bewegungen“ zu schmieden. Aber jetzt ist ihr Rot- Grün aufgezwungen worden, und man kann noch nicht einmal sagen: durch einen klaren Wählerwillen. Die Partei bleibt gespalten, der Vorsitzende selbst ist es auch. Kein Mensch weiß, wie man rechtspopulistische und postmaterialistische WählerInnen zusammenführen kann. Die bisherige Nicht-Entscheidung hat die SPD geschwächt, die Entscheidung muß sie nicht stärker machen. Was sie an Rot- Grün-WählerInnen zurückgewinnen mag, kann durch eine Rot-Schwarz-Wählerwanderung bei weitem übertroffen werden. Die SPD biegt zwar aus der Position einer schwächer gewordenen Partei in die rot-grüne Kurve, strategisch sitzt sie aber immer noch am längeren Hebel. Sie kann auch mit der Union.

Für die Unionsparteien könnte die gewagteste Strategie die realistischste werden: der Griff zur absoluten Mehrheit. Erweitert um den größeren Teil aus der Konkursmasse FDP wird im sich neu formierenden Parteiensystem eine absolute Mehrheit denkbar – indem die Union Rechtspopulismus und Neue Rechte durch offensive Polarisierung gegen Rot-Grün an sich zieht sowie jene sozialdemokratischen WählerInnen gewinnt, die inhaltlich die Große Koalition wollen. Chance und Risiko sind gleich groß. Irgendwann muß die CDU sagen, ob sie mit der FDP oder gegen sie gewinnen will. Ohne die bei der FDP parkenden, aber die CDU meinenden WählerInnen ist die Partei unter fünf Prozent. Anonyme und isolierte WählerInnen können sich nicht selbst verabreden, sie brauchen ein Signal von außen. Die FDP kann schon nicht mehr selbst ihr Schicksal bestimmen. Die CDU-Strategie entscheidet über sie.

Die schwarz-grüne Debatte war ein Pausenfüller, als die Union einen Nachfolger für die FDP suchte, den Sozialdemokraten der Mut für Rot-Grün fehlte und die Grünen nicht nur auf der Stelle treten wollten. Die Verschärfung der Lagerpolitik wird von CSU, Kohl und auch der FDP vorangetrieben werden. Polarisierung ist unerfreulich und unangenehm, aber auch Willy Brandt hatte 1969 keine Alternative. Er mußte eine radikale Polarisierung gegen seine Ostpolitik durchstehen, ehe sie Bestandteil eines neuen Konsens werden konnte.

Die gesellschaftspolitischen Flügelparteien FDP und PDS könnten 1998 darüber entscheiden, ob es in Deutschland zu einer wirklichen Machtverschiebung kommt. Ein knappes Scheitern der FDP brächte wohl auch die Union aus der Regierung, ein knappes Scheitern der PDS verhinderte wahrscheinlich den Machtwechsel. Daß beide zugleich knapp scheitern, wäre ein Glücksfall, auf den sich aber Strategien nicht aufbauen lassen. Joachim Raschke

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg