Auf dem satten Friedhof

■ Das Stattbuch 5 mit 4.500 Projektadressen ist erschienen / Die Alternativbewegung zwischen Lethargie und Aufbruch / Am lebendigsten ist die Kulturszene Ostberlins

Es kommt so gelb und gülden daher wie ein weiteres Werk der Telekom-Gesamtausgabe. Und neben den Telefonbüchern im Regal hat es auch seinen richtigen Platz – das soeben erschienene Stattbuch Nr. 5. Rund 4.500 Adressen von Alternativprojekten sind darin aufgelistet, vom „Abendmahl-Restaurant“ bis zum „Zweirad Museum“. Das 384 Seiten umfassende Adreßbuch ist nicht nur ein Wegweiser durch die Hauptstadt der Alternativbewegung, es verrät auch viel über deren Stand.

Stattbuch-Verleger Klaus Esche, mittlerweile in Ehren grau geworden, dreht sich im Kreuzberger Mehringhof eine Zigarette, während er die heutige Projekteszene „zwischen Lethargie und Aufbruch“ verortet. So wie er als einziger vom 1978 gegründeten Stattbuch-Kollektiv übrigblieb, so blieb der Szene auch manch anderes Projekt in erstaunlicher Stabilität bis heute erhalten. Auch wenn die Kollektivisten von einst heute zu Chefs geworden sind und die damals obligatorische Kapitalismuskritik heute wie eine Lachnummer wirkt. Die Kehrseite dieser Kontinuität ist ein gewisser Mief in der Nische, die gemütliche Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen. Die radikalen Ansätze oder, neudeutsch formuliert, die „innovativen Impulse“ werden seltener. „Die meisten haben inzwischen Kinder und Familie und sind zufrieden mit dem, was sie haben“, glaubt Esche.

Am stabilsten ist seiner Einschätzung nach der Gewerbebereich. 80 bis 90 Prozent der im letzten Stattbuch von 1989/90 aufgeführten Projekte existierten immer noch. Allerdings sei hier wohl eine gewisse Marktsättigung erreicht, es gebe nur noch wenige neue Ideen. Bei den von gekürzten öffentlichen Zuschüssen abhängigen Kultur- und Sozialinitiativen hat sich aber nur rund die Hälfte über die Runde der letzten fünf Jahre retten können, schätzt der Stattbuch-Verleger. Am schwierigsten sei das Überleben für die Projekte im Osten. Von den 1991/92 im „Stattbuch-Ost“ aufgeführten Projekten im ABM-Land seien nur noch 5 bis 10 Prozent vorhanden. Dennoch, sagt er, sei derzeit nichts in der Stadt so dynamisch und lebendig wie die Kulturszene Ostberlins: „In einer Art Gründungsrausch sind höchst kreative Projekte entstanden, Provisorien aller Art haben vitale Kräfte zur Entfaltung gebracht.“

Auch im Ökologie- und im Jugendbereich diagnostiziert der Verleger eine „erfreuliche Aufbruchstimmung“: „Die Jugendlichen, die heute früher in die Selbständigkeit entlassen werden, merken, daß ihre Eltern mitsamt der ganzen Gesellschaft auf einem satten Friedhof hocken.“ Viele seien nicht länger gewillt, das hinzunehmen, auch wenn sie „andere politische Formen benutzen als wir damals“. Ute Scheub

Das Stattbuch 5 ist über den Stattbuch-Verlag, Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin, zu beziehen und kostet 29,80 DM.