■ Der „Rückzug“ der TürkInnen in Deutschland, 3. Versuch
: Leben mit Widersprüchen

Vorwürfe werden laut: Die Türken sind nicht integrierbar. Die Türken schaffen eigene, von den Deutschen separate Strukturen. Die türkischen Medien sind zunehmend deutschland- und deutschenfeindlich. Sie propagieren Abschottung und Distanz. Eine Ära der paternalistischen Ausländerbetreuung geht zu Ende. Es gibt keinen Grund, sich darüber zu beklagen. Nichts ist schlimmer als die Aura falscher Freundschaften, die von Halbwahrheiten und gutgemeinten Absichten getragen wird.

Die gegenwärtige deutsch-türkische Krise ist eine Chance. Die falschen Fronten bröckeln. Türkenfreundlichkeit ist keine linke Masche mehr. Durch die von aktuellen Problemen angereicherten Spannungen könnte vielen solidarischen Deutschen klarwerden, wie wenig sie über den wissen, dessen Hand sie lange gehalten haben. Läßt man die Hand los, glaubt man den Partner zu verlieren. Er könnte eigene Wege gehen.

Die Angst vor den Türken wurde in Deutschland im allgemeinen mit den Rechten und den Xenophoben im Land in Verbindung gebracht. Dieses Links-rechts- Schema trägt nicht mehr. Die CSU, die gewalttätige Kurden abschieben will, ist dem kleinbürgerlichen türkischen Ladenbesitzer, der sein Hab und Gut geschützt sehen will, lieber als eine mit Gewalt kokettierende Linke.

Es ist vollkommen richtig, daß der türkische Staat die Türken in Deutschland zu beeinflussen versucht. Solange der deutsche Staat nicht um diese Menschen wirbt, braucht man sich über die Schieflage, in die manche türkischen Bürger in Deutschland geraten, nicht zu wundern. Aufrichtigkeit ist gefordert. Multikulturalität verträgt mehr Dissens, als manch ein voreiliger Freund der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland wahrhaben möchte. Die Minderheiten werden ihre Nischen in diesem Land ausbauen. Ob sie sich in diesen Nischen einmauern, ob sie dort erstarren oder ob daraus Labore der Veränderung und Entwicklung werden, hängt nicht nur von äußeren Faktoren ab, die beim anderen zu suchen sind.

Die Türken in Deutschland müssen sich Kritik gefallen lassen. Könnten sie diese Kritik nicht zur Selbstkritik nutzen? Larmoyanz und das Einklagen von Sonderrabatten ist der falsche Weg. Wo bleibt der Protest gegen eine verfehlte türkische Politik, die die Menschen hierzulande direkt zwischen die Fronten führt?

Die Türken in Deutschland wollen vor allem eins: aufsteigen. Sie wollen in Ruhe gelassen werden, um Erfolg in dieser Gesellschaft zu haben, in die sie strukturell besser integriert sind als Einwanderer in manch einem anderen Land. Allen, die über die multikulturelle Gesellschaft theoretisieren, sei ein Spaziergang durch das Kreuzberg von heute empfohlen. Die Art und Weise, wie sich dieser Stadtteil verändert, straft all diejenigen Lügen, die bei jeder Gelegenheit von Nichtintegrierbarkeit reden. Längst ist Kreuzberg ein Labor der Vermischung. In den Hinterhöfen mag sich manch einer abkapseln. Aber schon an den Straßenfronten bröckelt die kulturelle Homogenität ab. Längst haben die Wellen von New York auch Kreuzberg erreicht. Die Menschen sind auf der Suche nach aktuellen Formen ihrer Identitäten. Laßt sie doch in Ruhe suchen! Laßt die türkische Minderheit in Deutschland ihre eigenen kulturellen Ausdrucksformen finden! Der Kurde aus der Türkei, der Alewit aus der Türkei, sie sind in Berlin vielleicht kurdischer und alewitischer als in ihrer ursprünglichen Heimat, wo ihre Erbschaft von einer nach künstlichen Einheiten trachtenden Ideologie konfisziert worden ist. Erbschaft ist nichts Verwerfliches. Doch wie geht man damit um? Und eine Frage an die Deutschen, die von nationalistischen türkischen Medien geschockt sind, sei erlaubt: Seit wann bitte beschäftigen sie sich mit türkischer Kultur? Welchen Platz nimmt sie in deutschen Medien ein? Welchen in deutschen Verlagen?

Statt unsere groben und vagen Vorstellungen über die multikulturelle Gesellschaft zu pflegen und diese in ratlose Klagen über den anderen, der nicht so sein will, wie man möchte, zu stecken, sollten wir uns vielleicht der Beantwortung dieser Frage widmen. Erst dann wird das Zusammenwachsen von unterschiedlichen kulturellen Hintergründen spannend.

Die Türken tun sich schwer mit ihrer neuen Rolle als Minderheit. Mühsam lernt man, mit Widersprüchen zu leben. Im praktischen Leben sind diese Widersprüche längst Wirklichkeit. Sie formen die Menschen. Vor allem die Frauen, die versuchen, sich von überlieferten Traditionen zu emanzipieren, ohne mit ihren Familien, die ihnen ein Stück Heimatrest und Geborgenheit bieten, zu brechen, sind die Avantgarde des neuen Arrangements. Von außen mag dieses Leben zwischen den Kulturen tragisch aussehen. Doch wer einmal dort steht, weiß, was er nicht missen möchte: den anderen in sich. Er steht nicht dazwischen, sondern fühlt längst die Zwischenräume in sich wachsen, als Orte der Begegnung, des Streits, der Spannung. Distanz und Nähe sind nicht immer vermittelbar. Die persönliche Sprache ist in Alltagsgesten oft besser aufgehoben als in Theorien. Die Frage, die sich stellt, ist nicht, ob wir unterschiedlich sind, sondern, ob wir trotz unserer Unterschiedlichkeit zusammenleben können. Die poröse Durchlässigkeit ideologisch geformter Denkgebäude bleibt weitgehend unbeachtet. So bleibt der eigene Standpunkt unberührt von Auseinandersetzungen, die ihn entwickeln könnten. Wehklagen über den anderen nützen nichts. Man muß sein Staunen umsetzen können in Sprache. Diese Sprache fehlt uns weitgehend. So herrscht zwischen den Deutschen und den Türken weitgehend Kommunikationslosigkeit. Eine geeignete Atmosphäre, um Demagogie und Feindschaft gedeihen zu lassen. Diejenigen, die vor dem eigenen Rassismus die Augen schließen, schreien am lautesten, wenn sie selbst Opfer sind.

Vor allem die türkische Linke in Deutschland versagt. Sie hat den nationalistischen Pervertierungen fast nichts entgegenzusetzen. Im staatlichen türkischen Fernsehen werden Kinder bei Gameshows in Uniformen gesteckt, wird einseitige ideologische Propaganda betrieben wie einst in den sozialistischen Staatssendern. Das alles ist richtig, aber nicht durch Vorwürfe und Anklagen zu unterbinden. Die Medien klären längst nicht mehr auf. Nirgendwo. Dies kann gerade in stark gemischten Gesellschaften zur erheblichen Verschärfung von Konflikten führen. Jederzeit kann Fremdheit in Feindschaft umschlagen. Gegen diese Gefahr hilft politisch korrektes Verhalten unter Gleichgesinnten wenig. Vielmehr müßten entgegen dem modischen Trend, soziale Vorgänge als Heimsuchungen zu beschreiben, analytische Methoden und pragmatisches Handeln reaktiviert werden. Zafer Șenocak

Siehe die Texte von Vera Gaserow und Dilek Zaptçioglu, taz vom 9. bzw. am 18. 5.