Schmerzhaft opiatisches Wunderland

Die freie Szene ist wieder wer: Die Grenzen des Körpers auf dem Münchner Tanzfestival „Dance 95“  ■ Von Arnd Wesemann

Das Publikum drängelt. Vor der Eisentür des Theaters recken sich Arme und Hände um die letzten Eintrittskarten. Mäntel zerknautschen. Zigaretten, Schirme, Programmhefte fallen zu Boden und werden von schwankenden Füßen platt getreten. Die Eisentür öffnet sich. Von hinten drücken Zuschauer gegen diejenigen, die schon unmittelbar vor der schweren Tür stehen. Die aber weichen plötzlich erschrocken wieder zurück. Entsetzt starren sie auf zwölf Tänzer, die wie versteinert in der geöffneten Tür stehen wie chinesische Gräbersoldaten, die Augen geschlossen und blind den Zugang versperrend. Die stumme Phalanx der Tänzer glotzt augenlos in ein Publikum, das nun um so entschlossener auch dieses Hindernis überwinden will, sich wie ein Strom teilt, an den Tänzern vorbeidrängt in einen würfelförmigen Raum. Die Stühle stehen an den Wänden ringsum. Vier Ventilatoren unter der hohen Decke verteilen trägen Rauch. Wie verzückte Zombies wanken die zwölf Tänzer, fallen in einen Rhythmus ebenmäßiger Bewegungen und verschwinden langsam wie ein tumbes Totenheer just durch jenen Ausgang, durch den das Publikum gerade erst hineinkam. Wieder alleingelassen, haben die Zuschauer nichts Geringeres gesehen als das sonst so brav in Tutus geschweißte Ensemble des Bayerischen Staatsballetts, artige Brettl-Schwalben, aus denen stille, schöne, wankende Ungeheuer geworden sind. Ganze Traditionen des Tanzes scheinen hier in den Orkus gefahren.

Die Schwanensee-Nymphen, mutiert zu Wiedergängern der Nachmoderne, wurden auf der gestern zu Ende gegangenen dreiwöchigen „Dance“ vorgestellt, dem renommiertesten deutschen Festival für neue Tanzkunst, das nun zum dritten Mal in den Münchner Theatern Marstall, Muffathalle, Schauburg und Gasteig die zeitgenössischen Avantgarden des Tanzes gezeigt hat. Die eingeladenen neuen Choreographen stammen fast ausschließlich aus der freien Kunst. Beinahe alle kommen aus freien Kompagnien. Die freie Szene ist wieder wer; öffentlich- rechtliche Mitbewerber gibt es beim europaweiten Rangeln und Rempeln um einen Platz an der Avantgarde derzeit nur noch zwei: das Frankfurter Ballett unter William Forsythe und das Ballett der Königlichen Oper in Brüssel unter Anne Teresa de Keersmaeker.

Auf der „Dance“ gibt es neue Tendenzen wie nirgendwo sonst. Tanz kreuzt sich hier mit den bildenden Künsten. Die Choreographien fliehen vor ihren Traditionen ebenso, wie die Zombies unter der Regie der Düsseldorfer Gruppe „Neuer Tanz“ vor dem Publikum flohen. Wanda Golonka und VA Wölfl, kurz „Neuer Tanz“ – sie Choreographin, er bildender Künstler, beide inszenieren –, haben hier erstmals mit Mitgliedern eines Staatsballetts gearbeitet. Annäherungen zwischen erfolgreichen freien Gruppen und den klösterlich konservierenden Ensembles der großen Bühnen, so schwierig sie auch sind, scheinen unabdingbar geworden, wenn die neuere Szene die alte befruchten – oder ersetzen will.

Denn unübersehbar befindet sich der Tanz in einem neuen Aufbruch. Er läßt das Tanztheater hinter sich und verdichtet das Tanzvokabular, radikalisiert es. Die Bewegungen sind heftiger und genauer, die ästhetischen Bandagen härter geworden; Dringlichkeit liegt in der Luft. Auch wenn es nur ein „Try Out“ war, keine Premiere, so sind auch die Amerikanerin Meg Stuart und ihre neu gegründete Gruppe „Damaged Goods“ auf den Trampelpfaden in den Dschungel der bildenden Kunst unterwegs, so wie Wanda Golonka und VA Wölfl. Da die bildende Kunst in ihren Mitteln immer wieder genauso an sich selbst zu ersticken droht wie der Tanz, arbeitet Meg Stuart mit Künstlern wie Lawrence Carroll und führt mit ihm gemeinsam die Schläge. Dabei geht es nicht mehr um „Bildertheater“, jene wieder aufgegebene, meist nur dekorative Verbindung zwischen Kunst und Theater, sondern um innere Dreh- und Angelpunkte, etwa um ähnliche Raumdefinitionen bei Tänzern und Bildhauern.

Gleichwohl wirkt der Tanz in dieser Allianz opiatisch. Die Dichte und Insistenz der Kompositionen erinnert bei Meg Stuart an gewaltige Bilder mit vielschichtigen Farbaufträgen, die bei längerer Betrachtung zu flimmern beginnen. Das Wiederholen bestimmter Bewegungen führt nicht mehr zu minimalistischer Redundanz, sondern überlagert ähnliche Tanzelemente immer weiter, bis das Publikum aufhört, noch Strukturen zu erkennen und bestimmten Fäden zu folgen, sich statt dessen in die „Knoten“ der Choreographie verstrickt, sich zurücklehnt und der Komposition ausgeliefert ist.

Ein opiatisches Wunderland. Eines mit Schmerzen. Alles geschieht wie im Fieber: Die italienische Kompagnie Raffaello Sanzio treibt es auf die Spitze. Hamlet als Autist, ein sprachloser Nichttänzer, läßt seine Pistole ebensowenig los wie seinen Teddybären. Immer wieder drückt er ab, feuert in die Luft, immer wieder springen Zuschauer auf und verlassen fluchtartig den Raum. Der ist gefüllt mit Autobatterien, Kabeln, zwölf Neonkreuzen. Ein stählernes Bettgestell wird unter Strom gesetzt. Die Sprungfedern glühen. Das Metall kokelt. Hamlet läßt es kalt. Motoren rattern, Kanonenschläge feuern aus einer Tür. Hamlet schlägt sich einen Teelöffel auf die Nase, läßt seinen Daumen einsam tanzen und seinen Speichel in den Löffel fließen, leckt an seinen Brustwarzen und schlägt sie. Aus einem Metallkasten mit Schießscharte schauen vier Hände, Überlebende des Dramas, das nicht mehr stattfindet. Hungrige Finger sind durch die Schießscharte gesteckt, die dazugehörigen Stimmen stimmen ein langgezogenes „Aaaj“ an, Hamlet beschmiert die Wände mit seinen dickflüssigsten Exkrementen. Auch dieser Autist ist auf dem besten Weg zum Zombie.

Diese 1992 entstandene Performance erinnert noch an die alte Verknüpfung von Körper und Tanz in den bildenden Künsten, an den Performance-Begriff der körperlichen Verausgabung, wie er etwa bei Günter Brus, Marina Abramovic und Valie Export entstand. Das Festival sucht nun nach Fortsetzung; gentechnische und medizinische Körpertechnologien definieren den Körper neu, machen ihn zum Ersatzteillager, zu einem Gegenstand, der sich tunen läßt, wie dies seit Jahren der australische Performance-Künstler Stelarc vorführt. Für ihn ist der Körper ein mangelhafter Grundorganismus, der durch Prothesen erweitert werden muß. Durch Motorsägen, da er sonst keine Bäume ausreißen kann; durch Automobile, da er sich selbst nicht ausdauernd genug bewegen kann.

Radikale Körperkonzepte finden sich auch eher in der bildenden Kunst, im Umkreis der Kunstakademien. Eingeladen wurden deshalb acht Künstler, die Konzepte vorstellen sollten, wie der Körper noch szenisch arbeiten könne. Inspirationen für das Theater werden mit 10.000 Mark dotiert. Alle Hoffnung liegt auf den bildenden Künstlern. Theaterleuten traut man immer weniger zu, über ihren Körper hinaus zu reflektieren. Durch jahrelange Übung scheinen sie in ihrem Körper und im Theater derart eingesperrt, daß ihnen zeitgültige Aussagen über die Verformungen des Körpers nicht mehr abverlangt werden können.