Ein Fisch braucht ein Mountainbike

Yoko Tawada, in Deutschland lebende Japanerin, bereist in drei Geschichten poetische und erotische Zwischenwelten und beweist nebenbei, daß die Lust mindestens so viele Wege hat wie der Tintenfisch Fortbewegungswerkzeuge  ■ Von Elke Brüns

Nähme man Yoko Tawadas „Tintenfisch auf Reisen“ als ihr schönes Wappentier in der Schreiberzunft, hätte man den besten Eindruck von ihrer Textwelt und Schreibweise gewonnen: das Unterwasserreich der Imaginationen, durch die Sprache sich schwerelos und fließend bewegt, kleine Bilderstrudel erzeugt und weitergleitet.

Yoko Tawada beschreibt die Welt so, wie sie aussähe, könnte man gleichzeitig träumen und hellwach sein. „Fersenlos“ ist eine Geschichte (auch) über das Schreiben: so wirklich wie imaginär. Eine Frau aus der Fremde zieht in das Haus ihres Ehemanns, den sie noch nicht kennt, denn ihre Ehe besteht nur „auf dem Papier“. Sie werden sich unbekannt bleiben, da die Frau zwar morgens Tee und Geld findet, er sich aber in einem Zimmer mit einer schwarzen Tür vor ihr versteckt. Sie wird verschiedene Begegnungen träumen, in denen ihr Mann jedesmal anders aussieht. Einmal träufelt er ihr Tinte in die Ohren, damit ihr tintengefüllter Körper ihm gehört. Die Frau – der fersenlose Tintenfisch – denkt aber nicht im Traum daran, sein Tintenfaß zu werden. Im Schrank hängen siebzehn Pyjamas: „Vielleicht“, denkt sie, „hat er sich von sechzehn Frauen scheiden lassen.“ Ihre Notizbücher hat er ihr entwendet. Schließlich weiß sie: Er ist Romancier. Im Hin- und Hergleiten der Motive zwischen Realität und Traum bildet sich eine Wirklichkeit des Imaginären: Vielleicht, denkt man, ist der Mann als Romancier ein Blaubart, der im letzten Zimmer eingeschlossen bleiben muß. Vielleicht beruht die „Ehe auf dem Papier“ als Verbindung, die Frau und Mann auf der Ebene der Schrift unterhalten, auf der Existenz dieses Todesraums, in dem der weibliche Körper als Tinte der Schrift fungiert. Im Märchen darf die Frau das letzte Zimmer nie betreten, bei Tawada wird am Ende die tintenschwarze Tür aufgebrochen.

Sozusagen unterwegs bekommt die Erzählerin eine Broschüre geschenkt: „Sozialmedizinische Betrachtungen über Fremdkulturen und Fersen“, ein ironischer Kommentar zu dem Text eines Kinderliedes – „Du Tintenfisch auf Reisen / Zeig deine Fersen her / Denn in ein Bett zu steigen / Ist ohne Fersen schwer“. Die Erzählerin bleibt trotz der Aufforderung zur Fersentransplantation lieber fersenlos und fremd.

Vielleicht kann man dies als Bild für die Autorin nehmen. Die Japanerin Yoko Tawada kam 1980 mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Deutschland, lebt seit 1982 in Hamburg, wo sie Germanistik und Romanistik studierte; seit 1987 veröffentlicht sie in Deutschland und Japan. Ihre Sprachwelt – Tawada schreibt japanisch und deutsch – macht die Schrift zur Fremdsprache und setzt die bekannte Welt, mit der man fersenfest auf vertrautem Fuße steht, mit surrealen Bildern und Sprachströmen außer Kraft.

Tawadas Geschichten sind auch imaginäre Reisen in eine andere erotische Welt. Eine „Betrachtung über“ müßte sie entschieden als polymorph-pervers bezeichnen, also als das, was man so „schmutzig“ nennt. Um Kitamuras private Nachhilfeschule, von den Kindern Kitanara – „die Schmutzige“ – genannt, ranken sich entsprechende Gerüchte. Der Morphologie des Tintenfisches entsprechend, verschlingen sich die Erzählebenen, transmutieren die Motive. Die Lehrerin Mitsuko Kitamura soll den Kindern das Märchen vom Hundebräutigam erzählt haben, der mit seiner Zunge den Allerwertesten der Prinzessin säubert. Dieser etwas andere Märchenprinz nimmt für Mitsuko eines Tages Gestalt an. Man ahnt, daß hier nicht die entwicklungspsychologisch geschätzte genitale Sexualität und die entsprechend reife Persönlichkeit am Werk sind. Doch die bilden sich, wie Mitsukos Nachbarin auch, wohl eher im „Kulturzentrum“ weiter. So läßt sich nur in der Literatur als Nachhilfeschule das Gerücht aufrechterhalten, daß der Körper als unkultivierter ein dezentrierter war, daß Lust über mindestens so viele Kanäle verfügt wie der Tintenfisch über Fortbewegungswerkzeuge.

Auch Mayuko im „Faltenmann vom Sumida-Fluß“ bewegt sich in das Fremde, das im Traum und in der Erinnerung vorhanden ist. Sie will Tokio als Traumstadt ergründen: ein Faltengesicht. Die Bewegung dieser Geschichte gleicht einer Poetologie. Um in die andere Welt zu kommen, muß Mayuko eine Brücke überqueren, aber „natürlich fließt auch unter gewöhnlichen Straßen Wasser. Solange es Grundwasser gibt, sind auch Straßen, die man Straßen nennt, Brücken.“

Die Wirklichkeit verläuft nur scheinbar in festen Bahnen, eintauchen in die poetische Unterwelt kann man überall. Jeder äußere Ort unterliegt der inneren Beschriftung, einer subjektiven Zeichengebung. Tokio wird zum Erzählraum, in dem Traumbilder und reale Welt sich überlappen. Dinge und Eigenschaften haben darin keinen festen Platz, gleiten als Zeichen herum, verschieben sich, haften sich temporär an verschiedene Objekte und Menschen.

Die poetischen Bahnen der Einbildungskraft visieren wie Mayukos Gang keinen Zielort an, als Schreibweise folgen sie lieber den Imaginationen, die wie die „Gassen sozusagen nie ankündigten, welche Richtung sie einschlugen, sondern nach einem Gesetz, das Mayuko nicht kannte, sich wanden und verzweigten“. Mayuko landet „mittendrin in einer Szene“, von der ihr scheint, sie würde sie zugleich in einer Zeitschrift lesen. Die Szenerie ist auch bekannt – aber in ihrer Umkehrung. Mayuko hat das Viertel aufgesucht, in dem Frauen Männer bezahlen, „um in einer Art Experiment herauszufinden, ob ihnen die körperliche Liebe Spaß macht oder langweilig ist“. Als literarisches Experiment wird diese Szene aber nicht zur „Betrachtung über weibliche Sexualität“; sie erhält ihre „Wahrheit“ als flüchtiger Gedanke im Kopf des jungen Strichers: „Für Stärke, Mut, Härte, Schwung und Ausdauer, für das also, worauf die Männer sich etwas einbilden, zeigen die Frauen sich nur aus Höflichkeit interessiert, in Wirklichkeit aber scheinen sie etwas ganz anderes zu lieben, das Unerwartete, das fast Bedeutungslose.“

Anleitung für das Eintauchen in den Sprachstrom, in dem das Unerwartete Bedeutung gewinnt und Bedeutung sich unerwartet verflüssigt, bietet das schön aufgemachte Buch bereits optisch: Der Text gleitet die Seiten hoch und runter. Reist man lesend als Tintenfisch, kommt einem das Erzählte ganz natürlich vor. Wirklich exotisch hingegen ist ein Mountainbike, wenn es durch diese imaginäre Unterwasserwelt fährt.

Yoko Tawada: „Tintenfisch auf Reisen. 3 Geschichten“. Aus dem Japanischen von Peter Pörtner. konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, 208 Seiten, 29,80 Mark