■ Ökolumne
: Zukunftsnostalgie Von Florian Marten

Heute wollen wir einmal so richtig nostalgisch werden. Herz- und schmerzmäßig, richtig kitschig: „Leise streicht der Wind durch die Linden auf dem Marktplatz. Behäbig blickt die alte Kirche herüber. Das Licht der Gaslaternen Foto: Henning Scholz

spiegelt sich auf

dem feuchten Kopfsteinplaster und in den Fenstern des Rathauses mit Backsteinbögen und Schiefergiebel.“ Haben einige unserer LeserInnen sie noch erlebt? Die deutsche Stadt!? Die deutsche Kleinstadt aus den Kinderbüchern der 30er Jahre: Mit Kirche und Marktplatz, Bäcker und Apotheke, Rathaus und Metzger, Kopfsteinpflaster und Wetterfahne. Den Stadtpark mit verrosteten Gußeisengirlanden, den verfallenen Stadtwall und den Blick vom versumpften Stadtgraben auf kleine Gärten und weite Felder. Aber nein, wir wollen an dieser Stelle nicht für ein Recycling von Erich Kästners Fliegendem Klassenzimmer oder, schlimmer noch, Agnes Siebels rührenden Stadtgeschichten werben. Uns beseelt vielmehr der Geist von Rio. Kein Scherz, ehrlich.

Natürlich: Die deutsche Stadt unserer Kinderträume ist heute längst ersetzt durch bunte Shoppingcenter am Stadtrand, die mit Parkplatz und Altstadtsurrogaten das menschliche Bedürfnis nach Urbanität trügerisch ruhigstellen. Dabei: Stadtplaner, Verkehrsplaner, Sozialarbeiter, Regionalökonomen und Ökologen sind sich heute fast einig, daß die gute alte europäische Stadt mit ihren 10.000 bis 50.000 Einwohnern Leitbild für die Siedlungsform der Zukunft sein muß. Kompakte Urbanität, die auf engem Raum, aber in überschaubarer Größe Arbeiten, Wohnen, Kultur, schlicht städtisches Leben erlaubt, ohne daß die Probleme der Ballung überhand nehmen.

Weder die Vision von der Welt als einem großen Lehmhüttendorf, in den 70er Jahren von einigen Grünbewegten ernsthaft herbeigesehnt, noch die technokratisch-gewalttätigen Alpträume von einer Welt als High-Tech-Megalopolis sind menschlich, sozial, wirtschaftlich oder gar ökologisch verantwortbar. Nein: Die gute alte deutsche Stadt mit Kirche, Marktplatz und so weiter muß wieder zum Maßstab unser Stadt- und Regionalentwicklungspolitik werden. Auch große Metropolen darf es noch geben: Um ein metropolitanes Zentrum kann sich ein Netzwerk funktionstüchtiger und lebensfähiger Unterzentren gruppieren.

Eine interessante Parallele liefert übrigens die Chipwelt: Moderne EDV-Architekturen haben den großen Zentralrechner längst durch Netzwerke ersetzt — ein Strukturprinzip, das heute auch das Binnenleben von Chips und PCs prägt. Die neue Denke in Sachen Systemarchitektur gilt übrigens nicht nur für Chipkonstrukteure und Stadtplaner: Auch die Neudenker in Sachen Organisation sozialer und wirtschaftlicher Einheiten votieren heute gegen hierarchische Zentralität und für kommunizierende Netze — sogar richtig verstandene „lean production“ zielt in diese Richtung.

Es gibt sie sogar noch, die gute alte deutsche Stadt. Vereinzelt im Westen, vor allem aber im Osten. Nicht zersiedelt, mit Wohnbevölkerung im Zentrum, mit Industriebrachen, die nur auf zukunftsweisende Produktion warten, mit Stadträndern und Landschaften, die diesen Namen noch verdienen. Kurz: Ohne all die Nachteile, die Flächenfraß und Automobilismus anrichten. Würde es gelingen, auf die Fehler der westdeutschen Wiederaufbauära zu verzichten und diese Städte aus ihrem realsozialistischen Winterschlaf aufzuwecken, könnte aus Kinderbuchkitsch etwas ganz Aufregendes werden: ein Vorbild für das Überleben der Menschheit im dritten Jahrtausend. Soziales, urbanes, ökologisches Leben in menschlichen Dimensionen. Die reale Stadtentwicklung im deutschen Osten läuft freilich in eine ganz andere, die alptraumartige US-amerikanische Richtung: gigantische Kaufkartons am Stadtrand, Gewerbegebiete mit Autobahnanschluß auf ehemals grünen Wiesen, Zerfall der Innenstädte. Pessimisten sehen die Chance für eine Renaissance der deutschen Stadt im Osten auch schon perdu. Optimisten dagegen blasen kräftig in ein glimmendes Fünkchen Hoffnung: Gerade weil die Abschreibungsfreaks auf der Jagd nach der schnellen Mark nicht in die Innenstädte eingefallen sind, bekämen diese die Zeit, sich geruhsam zu regenerieren. Ob wirklich eines Tages Baumärkte am Rand blühender ostdeutscher Städte anstelle der Innenstädte plattgemacht werden?

Florian Marten arbeitet als taz-Mitarbeiter, freier Journalist und Verkehrsplaner in Hamburg.