Morgen werden in Cannes die Preise vergeben. Ein Film wird dabei wohl leer ausgehen: Zu offen, wenn auch nicht ohne einen gewissen Willen zur Tragik, spricht Larry Clarks „Kids“ über Teenager-Sex und Drogen Aus Cannes Mariam Niroumand

Jungfrauen sind negativ

Unter den vielen Filmen, die dieses Jahr in Cannes wütend ausgebuht wurden, war auch der Erstling des amerikanischen Fotografen Larry Clark, „Kids“. „Kindersex“ morste die Kollegin von dpa nach Deutschland, „Les Enfants perdu“ schrieb eine Lokalzeitung, und in der Pressekonferenz ging es zu wie in einem Gerichtssaal. „Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, Mr. Clark“, hatte eine Korrespondentin von CNN gefragt, „so zu tun, als habe die amerikanische Jugend nichts als Sex, Drogen und Gewalt im Kopf?“

„Och wissen Sie“, hat der Regisseur dann geduldig erklärt, „ich glaube einfach, daß es so ist: Man denkt an Sex, und zwar von morgens bis abends.“ Und ein spanischer Journalist wollte wissen: „Ist es nicht gefährlich, in Zeiten von Aids ständig ungeschützten Verkehr zu zeigen?“ Clark, berühmt geworden durch seine Adoleszenten-Fotos, hat bei sich in New York einige Skateboardfahrer aufgetan, von denen einer, ein 19jähriger mit dem schönen Namen Harmony Korine, ihm das Drehbuch schrieb: 24 Stunden im Leben von Telly, Casper, Ruby und Jennie.

Noch bevor man irgend etwas sieht, hört man, wie es küßt. Es schmatzt und schmirgelt. Ins Bild kommen dann zwei nicht eben hübsche, verschwitzte, sich unromantisch und geil betrachtende Teenangels, denen man bestenfalls 15 Jahre zubilligen möchte. „Weißt du, was ich jetzt machen will?“ „Ja, du willst mich ficken. Aber das geht nicht.“ „Warum, weil du noch Jungfrau bist?“ „Nein, weil ich kein Kind haben will.“ „Aber es würde dir Spaß machen, ich weiß es.“ Keine Musikunterlage, kein abgedunkeltes Licht, kein Schwenk zum Fenster verhelfen der dann folgenden Rammelszene zu irgendeinem Überbau; man könnte das Ganze für ein Homemovie halten, das Tellys Kumpels kichernd neben dem Bett hockend gedreht haben. Kein anderer Film in Cannes hat dermaßen ästhetisch konsequent eine Innenperspektive vertreten wie „Kids“. Die Girls reden über Sex, die Boys reden über Sex, alle in ihren Lagern. Das einzige Genre, in dem so was in Amerika drin ist, sind Splatterfilme, und da folgt die Strafe auf dem Fuß.

Zwei der Mädchen gehen zum Test, bei den Jungs läuft im Hintergrund ein Skateboard-Video, wahrscheinlich Aufnahmen von ihnen selbst, Harmony Korines Freunde, Straßenkönige. Telly mag am liebsten Jungfrauen: Triumphierend läßt er seinen Freund Casper an der Pussy-Hand riechen, „Virgins are clean, du bist der einzige, der jemals ihr erster sein wird, an dich werden sie sich erinnern, und – sie haben kein Aids.“

Fast ein Film wie aus der Warhol-Factory, einer von den schnöde dahinplätschernden Morissey-Filmen, wäre da nicht ein gewisser Wille zur Tragik: Jeannie, die wie Jean Seberg aussieht, hat in ihrem Leben nur mit Telly geschlafen und sich prompt bei ihm mit HIV infiziert. Er selbst weiß nicht, daß er positiv ist. Hinter Telly und Caspar zieht sie von der 77. Straße auf der Westseite durch den Central Park nach Downtown, um ihn zu warnen, wie ein Todesengel.

Der New Yorker Sommer ist kochend heiß, feucht und normal; in den U-Bahnen singen die üblichen Akkordeonisten, die üblichen Bettler kommen durch die Abteile (ein beinloser Schwarzer mit einem T-Shirt, auf dem steht „Kiss me, I'm Polish“), wie üblich klaut Telly seiner Mutter ein bißchen Geld. Sie ist übrigens eine der wenigen Erwachsenen, die überhaupt in diesem Film auftauchen („Your mother has great tits“, sagt Caspar, als er sie Tellys kleine Schwester stillen sieht). Überall in den Ecken bilden sich Trauben von Petting-Künstlern, um sie herum Claqueure, die sich mit Pot anfeuern.

Als ein erster Rohschnitt von „Kids“ auf dem Sundance-Festival in Utah gezeigt wurde, zeichnete sich schon ab, daß es für den Verleih, die Disney-Tochter Miramax, nicht ganz einfach sein würde, den Film im eigenen Haus durchzusetzen. (Einen deutschen Verleih hat der Film überhaupt noch nicht.) Es könnte schwierig werden, das R-Rating zu bekommen, also die Öffnung des Films ab 16, für die Clark auf einiges verzichtet hat.

Während einen die Hysterie in dem Land, in dem Hexenjagden wegen sexuellen Mißbrauchs, Teenagerschwangerschaften und Abtreibung an der Tagesordnung sind, nicht zu wundern braucht, erstaunt die Abwehr der französischen Presse schon.

Schließlich hat hier doch „Wilde Herzen“ den César bekommen, und schließlich wurde doch von hier aus Bertrand Taverniers „Der Lockvogel“ nach Berlin geschickt. Dann wieder ist es nicht so rätselhaft: Tavernier wollte vor dem Verfall der Jugend an die Fernsehseuche warnen, und „Wilde Herzen“ hatte eben Herz, das Clark ganz bewußt völlig abgeht. Das Nebeneinander von süßem Kindergesicht und abgewichsten Sprüchen, von Unschuld und Verlotterung interessiert ihn nicht als Gewissenskonflikt, auch nicht als Soziogramm wie im ebenfalls in Cannes gezeigten „La Haine“ von Mathieu Kassowitz, sondern als Darstellungsproblem.

Wenn Telly zum Schluß aus dem Off sagt, er denke deshalb die ganze Zeit an Pussy, weil man in seiner Lage nur noch nach innen wolle, ist das eine überflüssige Gebrauchsanweisung für diejenigen, die dem Film bis dahin nicht ganz folgen konnten. Dazu paßt, daß die deutschen Kollegen wiederum mehrheitlich fanden, Clark habe seine Protagonisten wie Zootiere betrachtet – dabei ist sein Blick zwar kühl, aber cool.

Zwar behauptet er blöderweise, „Kids“ als mahnende Fabel angelegt zu haben („ich habe selber Kinder, und ich habe Angst“). Aber davon ist im Film nichts zu merken, viel zu heftig ist das Treiben der Wunschmaschinen, mit einem Zeigefinger sind die nicht zu dirigieren. Eine der letzten Einstellungen zeigt die ganze Posse am Morgen nach der Party reglos in einer Wohnung verstreut, die Hosen offen, manche noch ineinander verhakt, manche allein; vielleicht schlafen sie, vielleicht ist es ein Dornröschenmärchen, vielleicht sind sie tot. Larry Clark weiß es auch nicht.