Claes: Wir sind an einem Wendepunkt

■ Westliche Politiker verteidigen Nato-Lufteinsätze gegen Serben / Kohl und Major appellieren an Rußland / Jelzin: „Wir haben die bosnischen Serben gewarnt“

Brüssel/Bonn (dpa/rtr) – Die jüngsten Nato-Lufteinsätze gegen die bosnischen Serben waren möglicherweise nicht die letzten. Der Generalsekretär der Nato, Willy Claes, sagte gestern, die internationale Gemeinschaft sei an einem Wendepunkt angelangt, an dem sie die ständigen Demütigungen durch die Serben nicht länger hinnehmen könne.

Die Luftangriffe der Nato bezeichnete Claes als „Antwort auf eine flagrante Verletzung der Sicherheitszonen“ und eine systematische Blockierung der humanitären Hilfe. Die Verteidigungsgemeinschaft habe damit keinerlei Absicht, Partei zu ergreifen. Sie handle lediglich im Rahmen der UN-Resolutionen. Das serbische Vorgehen stelle nicht nur eine Bedrohung für die Mission der UN dar, meinte Claes weiter, sondern auch eine „Herausforderung für die Glaubwürdigkeit der internationalen Gemeinschaft“.

Zu den direkten Folgen der Nato-Angriffe meinte US-Außenminister William Perry, er erwarte zunächst nicht, daß die bosnischen Serben hierdurch zur sofortigen Einstellung ihrer Angriffe auf die bosnische Hauptstadt und die UNO-Schutzzonen veranlaßt würden. Erst nach einiger Zeit würden die Nato-Einsätze Wirkung zeigen, sagte Perry gestern bei einem Besuch in Rom. Zwar seien neue Vergeltungsschläge der bosnischen Serben zu befürchten, doch dies sei weniger riskant, als ihnen die Fortsetzung ihrer Angriffe auf bosnische Städte zu gestatten. Beobachter schlossen daraus, daß Perry mit weiteren Nato-Einsätzen rechnet.

Bundeskanzler Helmut Kohl und der britische Premier John Major, die sich gestern zu einem Routinegipfel in Bonn trafen, sprachen von einer dramatischen Zuspitzung der Lage. In einer mit den anderen westlichen Partnern abgestimmten Botschaft forderten sie den russischen Präsidenten Boris Jelzin auf, seinen Einfluß bei den Serben geltend zu machen. Er solle über den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević versuchen, den Chef der bosnischen Serben, Radovan Karadžić zum Einlenken zu bringen. Offenbar war es aber nicht leicht gewesen, Jelzin ans Telefon zu bekommen: er hielt sich gerade in der weißrussischen Hauptstadt Minsk auf.

Gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax erklärte der russische Staatschef gestern, er sei über die Entscheidung für Luftangriffe unterrichtet gewesen und habe sich dagegen ausgesprochen. „Wir konnten die serbischen Führer noch warnen, daß ihre Stellungen bombardiert würden, falls sie ihre militärischen Aktionen nicht einstellten“, sagte Jelzin. Diese hätten ihre Kampfhandlungen jedoch fortgesetzt. „Sie erhielten, was sie verdienten.“