Auf dem „mütterlichen Auge“ blind

■ betr.: „Ein Tor in die Zukunft“, taz vom 9.5.95

Offener Brief an Bundespräsident Roman Herzog“

Sehr geehrter Herr Herzog! Die taz zitiert Sie am 9. Mai und berichtet über Sie und Ihre Rede zum Kriegsende wie folgt: „Er schonte nicht die Täter – ,Die Deutschen wissen, daß viele ihrer Väter für den Holocaust verantwortlich waren‘“. Es schaudert mich beinahe, wenn ich Gleichbehandlung verlange und die Beachtung der Frauen und deren Verantwortung einklage. Ich frage Sie: Was war mit den Müttern? Um das Ungeheuerliche zu schildern, ist mir Ihre Darstellung zu simpel: hier die bösen Männer (SS, Gestapo, Wehrmacht, KZ-Wärter) und dort die ... die heroischen Trümmerfrauen.

Meines Erachtens ist es diese „mütterliche“, die „weibliche“ Dimension des Faschismus, die ihm den Zugang zu vielen Familien ermöglicht und zu einer „Normalität“ des faschistischen Alltags in Deutschland geführt hat. Sie ist so unbegreiflich, da mit „Mütterlichkeit“ eben „Liebe zum Leben – allgemein, nicht nur zum arisch-deutschen“ assoziiert wird. Offensichtlich schmerzt es noch nach 50 Jahren, auszusprechen, daß viele Frauen und Mütter in Deutschland auch quälen konnten beziehungsweise wegschauen konnten, wenn gequält, abtransportiert, gemordet wurde.

Kein Franco, kein Mussolini, kein Stroessner und kein Pinochet wurden in dieser „deutschen“ Weise vom ganzen Volk getragen! Und das ist wohl oder übel auch die Verantwortung der deutschen Frauen, die der Faszination eines Mannes und der Ideologie einer Herrenrasse erlegen sind. [...]

Um Faschismus zu verhindern, muß rassistisches Denken und menschenunwürdiges Verhalten verhindert werden. Dazu muß man begreifen, wie es mögich ist, nicht nur Väter, Soldaten, Jugendliche, sondern eben auch Frauen und Mütter für eine Ideologie zu begeistern, die ganz offen Menschen das Recht auf Leben, auf eine eigene Gesinnung abspricht, sie als „lebens-unwerte Wesen“ bezeichnet, die es gilt, „auszurotten“. Ich habe die Befürchtung, daß solches Gedankengut noch in den Köpfen steckt, wenn heute Begriffe auftauchen wie: „Wenn sie hier leben wollen, sollen sie sich anpassen“, oder „Das Boot ist voll“ etc. [...]

Sehr geehrter Herr Herzog, wenn wir das Erbe der „guten Deutschen“ antreten wollen, derer, die desertierten, die sich dem Unrecht verweigerten, dann müssen wir die Augen ganz aufmachen und dürfen nicht auf einem, in diesem Falle dem „mütterlichen, Auge“ blind sein. [...] Marianne Link, Heidelberg