Auf dem Holzweg gen Osten

Während der Präsident der Nordatlantischen Versammlung, der SPD-Mann Karsten Voigt, wie auch der CDU-Politiker Rudolf Seiters für eine Ostausdehnung der Nato plädieren, warnen Friedensforscher vor diesem Schritt  ■ Von Hans Monath

Von deutschen Regierungs- und Oppositionspolitikern haben russische Sicherheitsexperten gegenwärtig keine guten Botschaften zu erwarten. Noch vor der Jahrtausendwende, so erklärte am letzten Mittwoch der stellvertretende Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion, Rudolf Seiters, vor der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau, könnten erste mittel- und osteuropäische Staaten der Nato beitreten. Ebenso entschieden hatte kürzlich Karsten Voigt (SPD) gegenüber Außenminister Andrej Kosyrew die Erweiterung des Bündnisses vertreten und gleichzeitig Kooperation angeboten. Die harsche Reaktion seines Gesprächspartners hat Voigt nicht überrascht: Er rechnet nicht damit, daß Rußland in den kommenden Jahren seinen Widerstand gegen das Näherrücken der Nato aufgibt.

Die Begegnung mit Kosyrew hat der SPD-Abgeordnete in einem Bericht festgehalten, den er am Wochenende in Budapest der Nordatlantischen Versammlung vorlegte. Zum ersten Mal tagte diese Konferenz von Parlamentariern der Nato-Länder außerhalb des Bündnisses. In der Organisation, deren Präsident Voigt ist, arbeiten heute schon Abgeordnete aus den mittel- und osteuropäischen Staaten (MOE-Staaten), aber auch aus Rußland, als assoziierte Teilnehmer mit. Unterhalb der militärischen und völkerrechtlichen Ebene hat die Einbindung schon begonnen.

Am Samstag schlug Voigt auf der Tagung eine „weiche“ Osterweiterung der Nato vor. Zwar sollten die neuen Mitglieder aus Ost- und Mitteleuropa „voll in die Nato-Strukturen integriert“ werden und keinerlei Sonderstatus nach französischem Vorbild erhalten, doch bräuchten dort in Friedenszeiten keine fremden Truppen und auch keine Nuklearwaffen stationiert zu werden. Parallel zur Integration der beitrittswilligen Staaten in Mittel und Osteuropa müsse, so Voigt, eine enge Kooperation mit Rußland angestrebt werden, um dort vorherrschende Vorbehalte gegen das Nato-Engagement abzubauen.

Die zügige Osterweiterung aktiviert alte russische Ängste vor einer Ausgrenzung. Auf der anderen Seite drängen die MOE-Staaten auf schnelle Aufnahme in die Allianz, weil sie angesichts der Dominanz des Militärs in Moskau Sicherheitsgarantien suchen.

Über die verschiedenen Optionen der Nato, die MOE-Länder zu stabilisieren, macht sich die amerikanische Rand-Corporation ebenso Gedanken wie die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Da ist die Frage nach dem Tempo der Entwicklung, das durch die Verstimmung zwischen dem Bündnis und Moskau noch beschleunigt werden könnte. Der Chef der russischen Landstreitkräfte, Semjonow, hat kürzlich angekündigt, sein Land werde mit dem Aufbau einer Kaukasus-Armee den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) brechen. Die Nato, so warnt der Autor einer HSFK-Studie, Berthold Meyer, dürfe dies nicht als Argument für eine schnellere Ostausdehnung nutzen – schließlich sei das Bündnis am Zerwürfnis mit Moskau nicht unschuldig.

Der Friedensforscher, der die Nato-Osterweiterung unverblümt als „Holzweg“ bezeichnet, plädiert dafür, der Erweiterung der Europäischen Union (EU) nach Osten Vorrang zu geben und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu stärken. Die MOE-Länder sollten an die Westeuropäische Union (WEU), den militärischen Arm der EU, angekoppelt werden. Chancen für diese Vorschläge aber sieht er nur unter der Voraussetzung, daß die Nato den Erweiterungsprozeß nicht forciert, sondern sich mehr Zeit läßt.

Vor Eile bei der Osterweiterung warnte auch Klaus Segbers von der Stiftung Wissenschaft und Politik Ebenhausen kürzlich während einer von der Bundestagsfraktion der Grünen veranstalteten Tagung. Den Befürchtungen in den MOE-Staaten entspricht nach seiner Meinung keine reale Bedrohung: „Die Macht Rußlands stellt sich bei näherer Betrachtung als Ohnmacht heraus.“ Eine zielgerichtete und irgendwie verläßliche russische Außenpolitik, gar nationale russische Interessen kann der Wissenschaftler nicht ausmachen. Im Westen werde das bei Verhandlungen mit russischen Politikern nicht gesehen: „Es scheint mir, daß die westlichen Partner diese Simulation von staatlicher Kompetenz akzeptieren.“

Segbers vertrat vor den Grünen auch eine These, die gewöhnlich von links vorgebracht wird: Die Osterweiterung wertete er auch als Versuch, ein Bündnis zu stabilisieren, das sich seit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes in einer „Sinnkrise“ befinde. Im Interesse der Nato, deren Existenzberechtigung er nicht abstritt, warnte der Wissenschaftler aber vor einer „Überausdehnung“ und dem „Verlust des inneren Zusammenhalts“ des Bündnisses. Zonen unterschiedlicher Sicherheit innerhalb des Bündnisses würden den Charakter der Nato verändern. Auch einen Stabilitätsverlust der gesamteuropäischen Sicherheitslage wollte Segbers nicht ausschließen, wenn ein europäisches Gesamtkonzept zugunsten exklusiver Sicherheit für einige MOE-Staaten aufgegeben werde.

Die grüne Fraktion, vor der der Bremer Ost-Experte Wolfgang Eichwede für die Erweiterung plädierte, muß eine eigene Haltung erst noch entwickeln. Die Parteilinke zeigt sich skeptisch, sucht fast verzweifelt nach Unterscheidungskriterien zur Politik der Bundesregierung, spricht der Nato auf lange Sicht die Existenzberechtigung ab und macht die militärisch bislang machtlose OSZE als Alternative stark. Aber einen nachdenklichen Abgeordneten Helmut Lippelt treibt die Angst um, seine Partei könne sich – ähnlich wie im Prozeß der deutschen Einheit – durch strikte Verweigerung in eine Position manövrieren, in der sie vollendeten Tatsachen dann nur noch hinterherlaufen kann.

In eine Vorreiterrolle unter den Erweiterungsbefürwortern in der Fraktion scheint die Abgeordnete Waltraud Schoppe hineinzuwachsen. Für sie und auch für viele ehemalige Bürgerrechtler aus der DDR steht die Überlegung im Vordergrund, die Interessen der Länder „Zwischeneuropas“, vor allem Polens, zu wahren, die in der Geschichte immer zwischen denen der Großmächte zerrieben worden waren. Dem Wunsch dieser Länder, fest im Westen verankert zu werden, müsse angesichts der Risiken des Transformationsprozesses und des erstarkenden Nationalismus schnell entsprochen werden. Für eine Nato-Einbindung vor der EU-Erweiterung plädiert diese Denkschule, weil der für die EU-Ausdehnung nötige Umbau der europäischen Agrarordnung ein absehbar langwieriger Prozeß sein wird.

Mindestens so uneinig in der Erweiterungsfrage wie die Partei im Aufwind präsentiert sich auch die Bundesregierung. Während Außenminister Klaus Kinkel – zuletzt in Washington – zur Zurückhaltung mahnt, tritt Verteidigungsminister Volker Rühe offensiv als Anwalt der Ostausdehnung auf. Da käme es auf den Kanzler an, die Politik der Regierung zu bestimmen. Aber ein klarer Kurs der deutschen Außenpolitik ist gegenwärtig nicht auszumachen. Das Vermeiden einer Festlegung ist Folge des spezifischen Politikstils des Kanzlers, wie Karsten Voigt vermutet: „Die Männerfreundschaft Kohls zu Jelzin soll auf Dauer nicht belastet werden.“