■ Wo steht die türkische Community in Deutschland?
: Keine falsche Rücksichtnahme mehr!

Die Aufregung um Vera Gaserows Artikel „Der Rückzug auf die türkischen Medien“ zeigt vor allem eins: wir brauchen mehr Einmischung in „interne“ türkische Angelegenheiten. Er ist Teil eines ernsthaften Dialogs zwischen Deutschen und Türken, ohne falsche Rücksichtnahmen und ideologische Verbrämung – eines Dialogs, der den anderen vor allem ernst nimmt. Er zeigt, daß die paternalistische Ausländerbetreuung zu Ende ist, die Einwanderer aus der Türkei endlich als satisfaktionsfähig und Teil dieser Gesellschaft betrachtet, sie aus der Rolle des etwas unbeholfenen Kindes entlassen werden. Vorbei die Zeit, als sich jedes Kind jeden Fehltritt erlauben durfte – es wird für sein Handeln verantwortlich.

So wichtig es war, daß sich Deutsch-Türken wie Zafer Șenocak und andere einmischten, als die Deutschen sich in den Wirren der Wiedervereinigung auf die Suche nach sich selbst machten und dabei temporär von zivilen Standards und vom demokratischen Grundkonsens abwichen, so wichtig ist unsere Aufmerksamkeit, wenn Einwanderer ihrerseits nach „aktuellen Formen der Identität“ (Zafer Șenocak) suchen. In einer Vielvölkerrepublik ist „niemand eine Insel“, hat jede Veränderung im kollektiven Selbstverständnis einer (sozialen und ethnischen) Gruppe Rückwirkungen auf das Ganze.

Aber schon der Rundumschlag „Selbstgefällige Ignoranz“ der Deutschlandkorrespondentin der türkischen Tageszeitung Yeni Yüzyil, Dilek Zaptçioglu, zeigt, daß die immigrationspolitische Steinzeit noch nicht zu Ende ist, die Autorin weiterhin um paternalistische Betreuung bettelt. Gleichzeitig demonstrieren ihre Ausführungen, daß ein anderer Reflex noch gut funktioniert: ein „Türk dostu“ (Freund der Türken), ein „Amca Hans“ (Onkel Hans) kann nur sein, wer sich in Treue fest und mit viel Empathie zum Türkentum bekennt. Wer Zweifel an der Dichotomie – hier der diskriminierte, von bürgerlichen Rechten ausgeschlossene, verfolgte, vom Westen bedrohte, verbrannte Türke, dort der ignorante, gefühlskalte, hundeliebende, hartherzige, im Zweifelsfall neonazistische Deutsche – anmeldet, ist abgemeldet. Der Komplexität, den Ungleichzeitigkeiten und der Widersprüchlichkeit, mit der sich in der Bundesrepublik eine multiethnische Gesellschaft herausbildet, wird die von Zaptçioglu vorgenommene Schwarzweißmalerei nicht gerecht.

Welches Medienangebot die Menschen in der Türkei konsumieren, ist eine innertürkische Angelegenheit. Die Folgen müssen die Menschen dort ausbaden. Anders verhält es sich in der Bundesrepublik. Da die Immigranten eben keine Kolonie der türkischen Republik sind, ist es ein Recht dieser Gesellschaft, zu erfahren, aus welchen Quellen die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen – ob nun türkischer, griechischer, deutscher oder sonstiger Herkunft – ihr Weltbild zusammenbasteln, welchen ideologischen Einflüssen sie ausgesetzt sind.

Ein Grund, weshalb in der taz – um nur ein Beispiel zu nennen – an der volksverhetzenden Rhetorik so mancher bundesdeutschen Volksvertreter immer wieder heftige Kritik geübt wurde, war die Erkenntnis: aus Brandsätzen werden Brandsätze. Diese Dialektik ist kein deutsches Vorrecht, auch Türken sind dagegen nicht immun.

Die Produktion neuer Feindbilder wirft Zaptçioglu nun Vera Gaserow vor. Ihr Vergehen: Sie hat sich erdreistet, das türkischsprachige Medienangebot in Deutschland so zu skizzieren und zu kritisieren, wie es sich angesichts der rassistischen, chauvinistischen, antisemitischen und antiwestlichen Ausfälle in den von ihr namentlich genannten Medien gebührt. Eine überfällige Aufklärung, über die ich mich noch mehr gefreut hätte, wäre sie durch eine kritische, türkischsprachige Journalistin erfolgt. Anlässe dazu hätte es allein in den zurückliegenden zehn Jahren mehr als genug gegeben.

Anstatt fruchtloser Polemik wären ein paar Gedanken Zaptçioglus zu dem Problem nützlich gewesen, weshalb viele liberale Türken schlicht Angst haben, die extremistischen Auswüchse unter ihren Landsleuten – mit der Nennung von Roß und Reiter – öffentlich zu thematisieren und zu kritisieren. Ist es die Angst um Leib und Leben oder die Angst, innerhalb der türkischen Community als Nestbeschmutzer und Vaterlandsverräter unter die Räder zu kommen? Das gilt für die ganz überwiegende Anzahl türkischer Intellektueller, die über fundamentalistische, antidemokratische Entwicklungen in der türkischen Community lieber schweigen als informieren. Konfliktvermeidungsstrategie nennt man so etwas. Da ist es bequemer, sich schnell in der Opfernische zu verbarrikadieren. Dort muß man sich selbst nicht mehr in Frage stellen, es darf munter drauflos lamentiert werden, und jedes noch so persönliche Versagen und Unvermögen kann bedenkenlos in den größeren Kontext von Rassismus und Diskriminierung – deren Existenz hier natürlich nicht bestritten werden – gestellt werden.

Um diese Opferrolle entsprechend zu zelebrieren, muß Zaptçioglu in ihrem Lamento zur Brechstange greifen. „Die Türken haben in diesem Land keine politische, mediale oder kulturelle Existenz“, behauptet sie. Was für ein Unsinn! Sicherlich, die hartnäckige Verweigerung der Bürgerrechte für Immigranten ist eine Verantwortungslosigkeit der Bundesrepublik. Die Folgen für den inneren Frieden können nicht hoch genug veranschlagt werden, die Rechnung für diese Versäumnisse ist noch zu bezahlen. Aber ein Blick in die Kandidatenliste der PDS und Bündnis 90/Die Grünen zur kommenden Abgeordnetenhauswahl und der Wahl der Bezirksparlamente in Berlin würde Zaptçioglu darüber belehren, daß die Entwicklung vielschichtiger ist als von ihr unterstellt. Die Zeiten, als diese Parteien einen Alibitürken zur Beruhigung ihres internationalistischen Gewissens aufstellten, gehören der Vergangenheit an.

Absurd ist Zaptçioglus behauptete kulturelle (Nicht-)Existenz; es sei denn, ihr Kulturbegriff reduziert sich auf die Zahl der türkischstämmigen Intendanten an bundesdeutschen Theatern. Jeder Neuköllner, der seine Wohnung verläßt, tritt ein in eine städtische Kulturlandschaft, die entscheidend von türkischen Einwanderern geprägt ist. Das fängt bei den Gewerbetreibenden an, reicht über die türkischen Halbstarken, die am Wochenende mit ihren aufgemotzten Autos verkehrsberuhigte Straßen in Abenteuerspielplätze verwandeln, bis hin zur Beschallung der Hinterhöfe mit türkischem und kurdischem Liedgut. Das interkulturelle, gesellschaftliche Leben ist weiter entwickelt als manche seiner Interpreten. Eberhard Seidel-Pielen

Von unserem Autor erscheint im Herbst bei Elefanten Press: „Unsere Türken – Annäherung an ein gespaltenes Verhältnis“. Die Texte, auf die der Autor sich bezieht, erschienen am 9.5., 18.5. und 24.5. in der taz.