■ Fünf nach zwölf
: Der werktätige Deutsche hat das Wort

Wir schreiben den 30. Mai 1945. Seit einer Woche besitzt die Stadt neben der Täglichen Rundschau mit der Berliner eine weitere Tageszeitung.

Hier erklärt nun der Chef der neuen Magistrats-, Handels- und Handwerksabteilung, der ehemalige SPD-Landtagsabgeordnete Josef Orlopp, seinen Plan zur Entnazifizierung der Branche. Er sieht vor, die Geschäfte von Mitgliedern der NSDAP, der SA oder SS an „politisch verdiente Kaufleute zu überführen“. Geschäftsinhaber, die in keiner dieser Organisationen waren, aber „erwiesenermaßen dem Verhalten nach als Nazis bezeichnet werden müssen“, sind „eindringlich zu verwarnen (...). Nur so kann vermieden werden, daß das Gespräch über den Verkaufstisch dem Kunden gegenüber einen politischen Gefahrenherd bildet. Es darf nicht länger möglich sein, daß der Besitzer eines Kolonialwarengeschäfts, wie es dieser Tage geschah, dem Käufer, der die Qualität einer Ware beanstandete, antwortet: ,Ja, wenn wir den Krieg nicht verloren hätten.‘ Sollte eine solche Antwort dennoch wieder einmal vorkommen, dann werden alte Weiber nicht mit himmelwärts gerichtetem Augenaufschlag zustimmen (...), sondern aufgeweckte, politisch zur Einsicht gelangte deutsche Menschen werden dem unheilbaren Zeitgenossen ohne Zaudern übers Maul fahren.“

Aufgeweckte Menschen sind es auch, die in einer neuen Rubrik der Täglichen Rundschau „Der werktätige Deutsche hat das Wort“ ihre Stimme erheben. Am 25. Mai fordert dort Paula Homeyer aus dem Wedding: „Nachdem wir endlich den Hitler und seine PGs los sind, wollen wir endlich auch ein für allemal diese Namen aus unserem Gedächtnis löschen. Deshalb schien es mir schon höchste Zeit, daß es bei uns in Berlin keinen Horst-Wessel-Bezirk mehr gibt, keine Hitler- und Göring-Straßen. Ich würde vorschlagen, daß zuerst die Plätze und Straßen einen Doppelnamen tragen z.B. Thälmannstraße (ehemalige Göringstraße) usw. Ich und meine Nachbarinnen würden sich freuen.“

Einen Tag zuvor hatte ein W.R. aus SO 36 als „werktätiger Deutscher“ an gleicher Stelle seine Eindrücke über den in den Kinos angelaufenen sowjetischen Film „Die Mitgliedskarte“ an die Leser der Täglichen Rundschau weitergegeben: „An die Darstellung eines solchen Arbeiter- und Angestelltenlebens muß sich der deutsche Kinobesucher erst gewöhnen, der bisher nur die Welt des Scheins sah und nun die Welt, wie sie wirklich ist, erlebt. (...) Es liegt niemandem im Sinne, den deutschen Film etwa zu russifizieren. Wir Antifaschisten verlangen vom Film nur eines: Klarheit und Wahrheit.“

Diese Meinung teilte offenbar auch Volksbildungsstadtrat Otto Winzer. Der KPD-Funktionär, der am 2. Mai als Mitglied der Gruppe Ulbricht aus dem Moskauer Exil nach Berlin eingeflogen wurde, ernannte Heinz Rühmann zu seinem „Filmfachmann“. In seiner neuen Funktion erklärte der erprobte UfA-Arbeiterdarsteller der Berliner Zeitung die dringendsten Schritte zur Gesundung des deutschen Filmwesens: „Wir müssen damit beginnen, russische Filme zu synchronisieren, das heißt, ihre Dialoge ins Deutsche zu übertragen oder zumindest die Sprech- und Gesangstexte einkopieren.“

Eine Initiative, die in demselben Blatt der Spandauer Ingenieur A. Brämer mit seinem Leserbrief aber völlig unbemerkt unterwandert: „Viele Berliner und andere deutsche Landsleute haben sicherlich den Wunsch, die russische Sprache zu erlernen. Nicht bloß wegen der besseren Verständigung mit den Besatzungstruppen (...), sondern auch aus Gründen der Weiterung des Horizonts eines Verständnisses des russischen Wesens.“ Der seit dem 13. Mai sendende Berliner Rundfunk, so der Spandauer Ingenieur, sollte doch den Hörern in täglichen „Kursen“ die russische Sprache näherbringen. André H. Meier

Fortsetzung in vierzehn Tagen