Fünfzehn vergessene Jahre

■ Japan hat sein Trauma aus der Zeit zwischen 1931 und 1945 nicht bewältigt und verschließt die Augen vor der Zukunft

Wenn ein Staat einen Krieg verliert, bedeutet das bekanntlich noch lange nicht, daß er sich auch die Perspektive des Siegers zu eigen macht. Den Zusammenbruch eines Reiches überdauert dessen ideologisches Fundament nicht selten weitgehend unbeschadet.

In Japan hat man sich mit diesem Phänomen in letzter Zeit immer häufiger auseinanderzusetzen. 50 Jahre nach dem Krieg im Pazifik präsentieren japanische Publikationen eine heftig überarbeitete Version nicht nur der Ereignisse zwischen 1941 und 1945, sondern auch eine reichlich verzerrte Darstellung des Vormarsches in die Mandschurei, also nach China und Südostasien. Die Ursachen für den Krieg zwischen Japan und den Vereinigten Staaten sind unter dieser Voraussetzung nicht mehr nachzuvollziehen. Und die Revision geht weiter: Science-fiction- Comics, die ein Bild Japans als strahlende militärische Großmacht verbreiten, tauchen mehr und mehr in den Bestsellerlisten auf. Da gewinnt Japan den zweiten Golfkrieg, besetzt Hawaii und zerstört den Panamakanal.

Doch schon seit drei Jahrzehnten, lange bevor diese Werke ihr kriegsherrliches Japan-Bild verbreiteten, ist in einem anderen, weitaus unverdächtigeren Bereich, dem der Schulbücher, eine ähnliche Geschichtsklitterung zu beobachten. Als 1966 der marxistische Historiker Saburo Ienga die Schulbehörden durch seine neue Version der Kriegszeit in den Schulbüchern provozierte, stellte ihn das Bildungsministerium kalt und nutzte die staatliche Konzession für Schulbücher voll aus. Ienga strengte einen Prozeß an – die Mühlen der Gerechtigkeit mahlen bis heute an der Entscheidung.

1982 geriet das Ministerium mit einer anstößigen Lesart japanischer Kriegsgeschichte erneut in die Bredouille. In einem Text über den 1937 begonnenen Krieg mit China, dem Zehntausende chinesischer Zivilisten zum Opfer fielen, habe es, so tönten die Schlagzeilen, landauf, landab, das Wort „Einmarsch“ (shinryaku) durch „Vormarsch“ (shinshutsu) ersetzt. Prompt legten China und Korea Protest ein und nutzten die Gunst der Stunde für Handelserleichterungen.

Tatsächlich war man jedoch einer Ente aufgesessen. Diese Revision hatte nie stattgefunden. Vielmehr war das Bildungsministerium seiner spröden Informationspolitik zum Opfer gefallen: Wie in jedem Jahr hatte es die neuen Texte so spät an die Presse gegeben, daß die Journalisten arbeitsteilig lesen mußten und so der Lesefehler eines einzelnen eine landesweite Welle der Empörung hervorrufen konnte.

Die internationalen Folgen der Versuche Japans, seinen imperialen Ruhm wiederherzustellen und der Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen aus dem Weg zu gehen, sind mehr als bloße Lappalien. Japans Kriegsziel im Pazifik war die Herstellung eines einheitlichen Ostasiatischen Reiches. Der vorgeblich antikoloniale Kreuzzug sollte dem pazifischen Raum ein neues Goldenes Zeitalter unter japanischer Führung bescheren. Nun wächst – besonders in den USA – die Angst, daß dieses Ziel jetzt unter dem Deckmantel eines „asiatischen Industrialismus“ erreicht wird.

Deshalb sorgte Präsident Clinton beispielsweise dafür, daß die Vereinigten Staaten einen Sitz in der APEC (Asia Pacific Economic Cooperation) erhielten. Und deshalb ist auch Malaysias Premierminister Mahthir Mohammed nicht allein mit seinem Vorschlag, Japan solle Primus inter pares einer pazifischen Freihandelszone sein.

So bleibt die Vernichtung von Nanjing, bei der im Zweiten Weltkrieg 70.000 chinesische Zivilisten getötet wurden, in manchen Kreisen der japanischen Gesellschaft weiterhin unbeachtet; die vielen tausend Koreanerinnen, die zur Prostitution für die japanischen Besatzungssoldaten gezwungen wurden, warten weiter auf eine Entschuldigung und Wiedergutmachung; ein Friedensvertrag zwischen Japan und Rußland liegt noch immer in der Schublade, weil man in Japan jene vier Inseln nicht vergessen kann, die sich die siegreiche Macht 1945 unter den Nagel riß. Japans momentane wirtschaftliche Probleme, die verheerenden Folgen der Rezession und die schädlichen Auswirkungen des starken Yen, machen es unwahrscheinlich, daß der in den achtziger Jahren avisierte „Pax Nipponica“ Wirklichkeit wird.

Japans Unfähigkeit, sich mit dem Krieg auseinanderzusetzen, scheint ihm selbst mehr zu schaden als zu nützen. Aber man hatte natürlich seine Gründe, 15 Jahre der eigenen Geschichte auszublenden. Zunächst gab es bei denen, die den Krieg überlebt hatten, ein ernsthaftes Bedürfnis, nach dem Schrecken von Hiroshima und Nagasaki noch einmal ganz von vorne anzufangen. Artikel 9 der durch die USA oktroyierten Verfassung, der Japan jede Wiederaufrüstung verbot, wurde beim Wort genommen und ein genuin nichtmilitaristischer Staat geschaffen. Zum anderen ließ die Administration der Nachkriegsbesatzung unter MacArthur angesichts der kommunistischen Bedrohung durch das nahe China die Verwaltungs- und Geschäftselite des Landes in ihren Stellungen. Japan sollte ein mächtiges Bollwerk gegen den Kommunismus werden und durch freien Zugang zum amerikanischen Markt erstarken. Die Eliten Japans verstanden es in den nachfolgenden Jahren, diese Chance zu nutzen.

Die angestrebte Kontinuität und gesellschaftliche Mobilisierung zum Kampf um den ökonomischen Erfolg bedurfte paradoxerweise erst einmal gründlichen Vergessens. Um auf dem bisher beschrittenen Weg zu bleiben, verwischte man alle Spuren hinter sich.

Die Konsequenzen sind vielfältig. Sie berühren alle Aspekte des japanischen Lebens in der Gegenwart. Ein Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wäre Japans ökonomischer Rolle angemessen, kann aber ohne eine Entscheidung über Artikel 9 und die Lösung der Frage der Stationierung von Friedenstruppen außerhalb Japans nicht geschaffen werden. Eine Bürokratie, die sich aus rigiden, zentralistischen Strukturen entwickelt hat, findet keine institutionellen Alternativen, einen inzwischen deregulierten, international eingebundenen Staat zu verwalten. Dies zeigt die administrative Lähmung angesichts des Erdbebens in Kobe, als man sich als unfähig erwies, auf internationale Hilfsangebote schnell und flexibel zu reagieren.

Viel schwerwiegender ist jedoch der Schaden an der Psyche der Nation. Die Zeit zwischen 1931 und 1945 ist in einem Vakuum der Erinnerung verschwunden. Schulkinder fragen vergebens danach, wer im pazifischen Krieg „gewonnen“ hat; der Nachkriegsschriftsteller Michiko Hasegawa beklagt, daß er „aus dem Nichts geboren sei“. Überall manifestiert sich eine geistige Wurzellosigkeit, entstanden durch das Trauma der 15 Jahre, die nur als „Verirrung“ vorkommen dürfen: wenn Rechtsextremisten mit ihren Lautsprecherwagen hetzerische Parolen plärrend durch die Straßen fahren; wenn sich eine labile Koalitionsregierung als unfähig erweist, für den Krieg eine Entschuldigung zu formulieren, die für alle Seiten akzeptabel ist; und wenn konservative Politiker Geschmack am Besuch des Schreins von Yasukuni finden, in dem die sterblichen Überreste japanischer Kriegstoter, einschließlich Kriegsverbrecher, aufbewahrt sind.

Vielleicht drückt sie sich auch in der falschen Sicherheit aus, die von immer mehr Sekten angeboten wird, von denen Aum Shinrikyo nur ein – wenn auch ein besonders extremes – Beispiel ist. Nicht nur die Aktivitäten dieser Sekte, sondern auch die Reaktionen auf deren jüngste Anschläge sind Symptome eines in Japan virulenten Millenarismus, Resultat der psychischen Beschädigung durch die verdrängte Vergangenheit.

Nach einem halben Jahrhundert in der immer gleichen Bahn herrscht heute ein gefährlicher Mangel an Flexibilität. Er drückt sich auch in dem im April beschlossenen Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung des hoch bewerteten Yen aus, der selbst die vorsichtigsten Hoffnungen enttäuschte. Nur ein wachsendes Bewußtsein davon, daß die Wurzeln der Erstarrung in den 15 vergessenen Jahren liegen, könnte Japan dazu bringen, mit neuen Realitäten umzugehen. Die Aussichten für solch einen mutigen Sprung ins Ungewisse sind jedoch gering.

Dies war und ist bis heute der Preis, den Japan für den Krieg zahlt. Und es scheint, als würde dieses Land, das so wenig mit sich selbst und der Welt im reinen ist, ihn auch weiter bezahlen wollen. Jeremy Scott