Gesunde Wiederkehr der Skepsis

Notwendige und überflüssige Revisionen von Geschichte anläßlich von Daten mit Nullen am Ende haben Tradition – und bieten die Chance, sich von zu Geschichtsmythen gewordenen Deutungsmustern zu verabschieden  ■ Von Felipe Fernandez-Armesto

In dem Film „BIG“ spielt Tom Hanks einen kleinen, im Körper eines erwachsenen Mannes steckenden Jungen, der eine brillante Karriere als Spielzeugdesigner macht. Eine seiner Erfindungen ist ein Computer, der Kindern die Macht gibt, mit einem bestehenden Bildervorrat ihre eigene Version einer Geschichte zu schreiben.

Geschichte hat immer schon nach dem Prinzip dieser Maschine funktioniert und dabei widersprüchliche Wahrnehmungen derselben Ereignisse ausgespuckt. Sie mutiert nach dem Relativitätsprinzip, so daß unser Bild von der Vergangenheit völlig verschiedene Formen annimmt, je nach dem Einfallswinkel unseres Zugangs zu ihr. Als Junge war mein Lieblingsbuch „Pages glorieuses de l'armée française“, und zwar weil es Kriege, die mir aus meinen Englisch- und Spanischbüchern bekannt waren, mit aufregenden Schlachtszenen auffüllte, von denen die Schreiber meiner Schulbücher offenbar nie gehört hatten. Innerhalb eines einzigen Landes oder einer einzigen Kultur sind die Bedingungen und Bedürfnisse der Zeit der Niederschrift also schon ebenso Teil der Geschichte wie die erzählten Episoden und die beschriebenen Akteure der Handlung selbst.

Dank einer gesunden Wiederkehr des Prinzips Skepsis zweifelt dieses Jahrtausend an seinem Ende wieder heftig daran, ob es eine objektive Wahrheit der Vergangenheit – die auszugraben sich lohnte – überhaupt gibt. Schließlich stößt Geschichte vielen verschiedenen Menschen zu, die sie alle unterschiedlich erleben, dann womöglich noch nach völlig gegensätzlichen intellektuellen Mustern speichern und auf sich gegenseitig ausschließende Art und Weise dokumentieren.

Zuschauer sind Teil der Geschichte. Und bevor Geschichtsschreibung als Genre verschwindet – und von den Bibliothekaren unter „Andere Romane“ eingereiht wird –, bietet uns das nahende Jahr 2000 einen brauchbaren Anlaß, um einige der bestehenden Tendenzen dingfest zu machen. Obwohl die damit zugrunde gelegte Zeiteinteilung selbstverständlich zutiefst konventionell ist, ist es nun einmal so, daß alle Daten mit einer Null am Ende besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und die Phantasie anregen. Die Angewohnheit, in Jahrzehnten und Jahrhunderten zu denken, ruft zumindest die Illusion eines Wandels hervor, und das Verhalten der Menschen – oder zumindest die Art, wie sie ihr Verhalten selbst wahrnehmen – tendiert dann in der Tat dazu, sich entsprechend zu verändern.

Jahrzehnte und Jahrhunderte sind daher wie Uhrenkästen, in denen das Pendel der Geschichte hin- und herschwingt. Genau besehen, beginnt ein neues Jahrtausend natürlich jeden Tag und sogar jeden Moment. Aber für den Sylvesterabend 1999 waren sowohl die Royal Albert Hall in London als auch der Rainbowroom im obersten Stockwerk von New Yorks Radio City bereits 25 Jahre vor dem Ereignis gebucht. Die meisten großen Hotels sind für diesen Abend ebenfalls ausgebucht, und wie die Daily Mail berichtet, plant die Londoner Millenniumsgesellschaft eine Party am Fuße der Pyramiden. Der Wettlauf, rechtzeitig zur Party eine revidierte Festschrift vorzulegen, hat begonnen.

Geschichtsrevisionen finden in kleinerem Maßstab permanent statt. Ab und an wird ein Paradies verloren oder wiedergefunden – jede Zeit läßt ältere Vorstellungen vom Goldenen Zeitalter fallen und kreiert ihre eigenen Mythen. Saddam Hussein präsentiert sein Regime als Wiederkehr Babylons; britische Phantasien erzeugen gern nette Städtchen ohne Kriminalität, in denen die Arbeitslosen sich noch auf ihre Fahrräder schwangen und auf der Suche nach Arbeit in alle Himmelsrichtungen schwärmten. Bestimmte Gruppen tendieren dazu, ihre Vergangenheit als „historischen Weg“ mit einem bestimmten Ziel zu sehen – meist den gerade erreichten Stand in der Gegenwart –, bis sie es dann über Bord werfen, wenn nämlich ihre Selbstzufriedenheit keine Grundlage mehr hat. Ich nenne diese Geschichten gern „heilige Geschichte“, denn ihr Muster ist der Kampf der Juden in der ihnen vom Schicksal aufgebürdeten Rolle; einmalig unter all diesen Mythen ist der jüdische darin, daß die Juden ihre Interpretation der Vergangenheit nie revidiert haben – es sei denn, die derzeitig stattfindende Säkularisierung des Judentums und der Friedensprozeß im Nahen Osten brächten eine solche Revision zustande.

Andere, weniger haltbare Beispiele, sind zur Zeit im Schwinden begriffen: die Geschichtsinterpretation der Whigs, nach der sich Englands Entwicklung unaufhaltsam Richtung Rechtsstaatlichkeit und Demokratie entwickelt hat, spielt zwar in der Rhetorik von Politikern noch eine Rolle, nicht aber in ernsthaften Geschichtsbüchern. Und auch an den weiten Horizonten der Theorie von den Pionieren, nach der Amerika eine „geoffenbarte Bestimmung“ zu erfüllen hatte, sind die Wolken einer multikulturellen Betrachtungsweise aufgezogen, derzufolge auch Schwarze, Hispanier und die indigenen Völker Amerikas existiert haben sollen. Und als schließlich gar John Major eine klassenlose Gesellschaft versprach, konnte man sicher sein, daß die Vorstellung, der historische Fortschritt bewege sich vom Klassenkampf zur klassenlosen Gesellschaft, keinen Hund mehr hinter dem Ofen vor-

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lockte. Selbst die Historiographie des „europäischen Wunders“, die sich lange mit einer Erklärung europäischer Überlegenheit über den Rest der Welt herumgeschlagen hat, hat nichts besonders Glaubwürdiges mehr zu bieten.

Wenn heilige Geschichten sterben, werden klassische „Wendepunkte“ mit in den Abgrund gerissen: Ereignisse, die einmal von transzendierender Bedeutung waren, scheinen aus der neuen Perspektive wenig bedeutend. So war bis vor kurzem die Russische Revolution ein Ereignis von kosmischen Ausmaßen – heute scheint die Tendenz zu herrschen, selbst ihre Wirkung schon für Vergangenheit zu halten.

Andere Beispiele sind die industrielle Revolution (inzwischen spricht man lieber von „Industrialisierung“), die Reformation (inzwischen umbenannt in „Übergangszeit“), der Zusammenbruch des Römischen Reiches („Transformation der Antike“) und die Entdeckung Amerikas (die natürlich überhaupt nie stattgefunden hat). Wir sollten uns darauf vorbereiten, daß auch wichtige Ereignisse unserer eigenen Zeit eines Tages solchen Bedeutungsverlust erleiden: der Aufstieg Japans vielleicht, die Erfindung des Mikrochips, der Vietnamkrieg, der Fall der Berliner Mauer, das „immer engere Zusammenrücken“ Europas, der Friedensprozeß im Nahen Osten, die Demokratie in Südafrika...

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Zur Zeit werden allerdings noch die Idole älterer Generationen vom Sockel geholt: Wir leben offenbar im Zeitalter der Bilderstürmer, dem bisher schon Churchill, Kennedy, Lenin und Mao Tse- tung zum Opfer gefallen sind. Aber Helden sind immer schon ebenso schnell aufgestiegen wie gefallen, gekürt worden und verdammt, und zwar nach Kriterien, die sich mit den Bedürfnissen der Zeit und den Paradigmen der politischen Propaganda wandeln. Die wenigen haltbaren Exemplare – Jesus, Mohammed, Alexander der Große – überleben aufgrund von Eigenschaften, die man, wie bei bestimmten Actionman-Puppen, je nach Bedarf und Gelegenheit austauschen kann.

Neben den gefallenen Helden stehen die Bösewichte, die erst als Inkarnation des Bösen gelten und dann „neu beurteilt“ werden. Diese Bösewichte werden im chemischen Prozeß dessen transformiert, was C.S. Lewis den „historischen Blick“ genannt hat, der sich bemüht, historische Gestalten im Kontext (und nach den Kriterien) ihrer eigenen Zeit zu sehen. Derlei nennen Staatsexamens-Prüfer heute „Empathie“ – die in der gegenwärtigen pädagogischen Diskussion in Großbritannien zu ungeahnten Leidenschaften aufstacheln kann.

Neubeurteilung kann nicht nur das Bild von Individuen – King John, Dschingis Khan, Stalin und Hitler – verändern, sondern auch das von Institutionen und gesellschaftlichen Stimmungen – Inquisition, Menschenopfer, Todesstrafe, Genozid. Nichts ist so schlimm, als daß es nicht durch Beschwörung eines moralischen und kulturellen Relativismus gerechtfertigt werden könnte. Eines der großen Dilemmata liberaler Intellektueller im neuen Jahrtausend wird meines Erachtens darin bestehen, den Relativismus zu verteidigen und doch gleichzeitig vor seinen Folgen zu warnen.

Die meisten Gelegenheiten zum Umschreiben der Geschichte ergeben sich zur Zeit in den früheren kommunistischen Ländern, in denen viele Themen aus der Tabuzone wieder aufgetaucht sind und zuvor verbotene Lesarten aus dem Müllhaufen der Geschichte geklaubt werden. In einer kürzlich erschienenen Auflage des ungarischen Geschichtsatlas für Schulen ist aus der „Befreiung unseres Heimatlandes“, die „Militäraktion in Ungarn 1944–45“ geworden. In einem Begleitband für Lehrkräfte sind militärische Invasionen Rußlands, Kubas, Libyens, Indonesiens und Indiens neben die von Mächten gestellt, die man früher ausschließlich als „imperialistische“ bezeichnet hatte. Das moravische Reich, die Größe Litauens im späten Mittelalter, die Rolle der Freien Polnischen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg: das alles sind Themen, die in den Historiographien ihrer Länder zu neuer Prominenz gekommen sind. Und auch Nationalhelden werden höher gehoben oder gar ganz neu erfunden: Dschingis Khan in der Mongolei, Alexander der Große in Makedonien, Gjerje Fischta in Albanien und Janos Hunjadi in Ungarn.

Der Glaube an den historischen Marxismus ist derweil durch den Mißerfolg des politischen und ökonomischen Marxismus den Historikern ganz und gar abhanden gekommen. Trotz einiger mehr oder weniger eleganter Windungen und Wendungen, die das Gegenteil behaupten, haben sich die Voraussagen von Karl Marx schlicht als falsch erwiesen. Der Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat hat nicht die Formen angenommen, die er hätte annehmen sollen. Statt dessen haben beide Klassen im Zuge der Wohlstandsentwicklung kollaboriert und sind sich in Benehmen und Kleidung, Werten und Geschmack immer ähnlicher geworden.

Einige Anhänger des alten Glaubens gibt es noch – und übrigens wird ihre Zahl auch wieder steigen, sobald sich deutlicher zeigt, daß auch der Kapitalismus viele Hoffnungen enttäuscht. Zur Zeit jedoch filtern die meisten Geschichtswissenschaftler alles Marxistische aus ihren Analysen heraus. Die herausragenden politischen Revolutionen Europas der Frühmoderne wurden einst als Geburtswehen der neuen Gesellschaft bezeichnet, die sich blutbeschmiert aus dem Schoß des Feudalismus hervorkämpfte. Jetzt werden sie als kleine regionale Probleme recycelt. „Klassenkämpfe“ sind aus dem Wortschatz der Historiker verschwunden, selbst „Klassen“ gibt es immer weniger.

Die politischen Veränderungen, denen die kommunistischen Regime zum Opfer gefallen sind, haben Großreiche zerbrochen, besonders in Europa, und einige Völker entdeckten oder betonten ihre alten Identitäten neu. Einige von ihnen haben Dezentralisierung, Autonomie oder Unabhängigkeit bereits erlangt, andere fordern sie noch. Eine verklumpte Großpolitik in Brüssel oder Moskau kämpft mit der Mikropolitik des Kaukasus oder der Pyrenäen. Integration und Desintegration geschehen zur gleichen Zeit.

Konsequenterweise bekommen wir statt Rechtfertigungsgeschichte für Großreiche oder Nationalstaaten „Dezentralisierungsgeschichte“ geboten, die sich an eine Welt des Subsidiaritätsprinzips wendet. Als eine solche Politik in Spanien über Nacht zu einer Verdopplung regionaler Regierungen führte, investierten die Kulturabteilungen mächtig in identitätsstiftende Projekte für gesellschaftliche Gruppen, die häufig keine sonderlich tiefen historischen Wurzeln haben.

So förderten sie gelehrte Monographien über regionale Themen und gaben superbe, vielbändige Geschichtswerke über ihre eigene Verantwortung in diesem Kontext heraus. Nicht wenige Bücher zur Geschichte der europäischen Nationalstaaten haben in letzter Zeit noch die allerwinzigsten Erfahrungsspuren nachgezeichnet; typisch dafür kann wohl Braudels Mühe in „L'Identité de la France“ genannt werden, wo er dem kulturellen Umfeld noch jeder einzelnen Käsesorte gerecht zu werden versucht.

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Während wir noch darauf warten, daß der Rest der Welt Europas Dezentralisierungsvirus fängt, profitieren marginalisierte und minoritäre Gruppen und Gebiete von der historischen Aufmerksamkeit, wie sie früher nur den Metropolen, Großreichen und Staaten zugekommen ist. Das neue Denken in „weltgeschichtlichen“ Kategorien hilft dabei.

Weltgeschichte ist für mich das, was an den Rändern geschieht, wo Kulturen und Zivilisationen wie tektonische Platten aneinanderreiben und seismographische Effekte auslösen. Wobei man zugeben muß, daß auch das Projekt der Rehabilitierung des bisher Übersehenen manchmal nichts anderes ist als eine weitere Methode zur Aufhäufung metropoler Geschichte. Denn was dokumentiert und überliefert wird, ist gewöhnlich durch das Interesse des Zentrums an seinem Rand gefiltert. Von den Hsiung-nu wissen wir nur durch chinesische Dokumente, und auch über die Ranquele-Indianer wüßten wir nichts, hätte sich nicht Oberst Mansilla für sie besonders interessiert. Kinder, Frauen, die gesellschaftlich Schwachen, die Kranken und „Verrückten“ und ethnischen Minderheiten mußten warten, bis sich der Blick der Eliten wandelte, bevor sie ihre eigene Geschichte bekamen. Und doch zeigen die Grabungsarbeiten in solcherart „verlorener“ Geschichte – die an die Fähigkeit von Computerfreaks erinnert, längst gelöschte Texte im System wiederaufzufinden – auch, daß Geschichte ein größeres Potential hat als selbst die Geschichtenmaschine in „BIG“.

Die Revision von Geschichte wird nicht nur von politischen Veränderungen stimuliert; Impulse dazu kommen auch aus der Wissenschaft. Historiker, die früher Tatsachen in bestimmte Modelle wie in das Bett des Prokrustes zwängten, können heute die neue Respektabilität der Ungewißheit genießen. Geschichte wird jetzt als chaotisches Geschehen betrachtet; als Turbulenz, die sich zufällig ereignet oder in der zumindest die Auslöser einer Bewegung in der Praxis selten eindeutig auszumachen sind; oder als Zustand fast perfekter Balance, die – einer neuen Theorie zufolge wie bei der Evolution auch – durch plötzliche Veränderungsschübe gestört wird. Nach der langen Herrschaft des Graduellen ist jetzt die „Kurzfristigkeit“ – diese Schwäche der Wirtschaftsplaner – zur Stärke der Historiker geworden. Die meisten Trends und Auslöser, die konventionelle Geschichtsschreibung als graduelle Funktionen identifiziert hat, erweisen sich bei näherer Betrachtung eher als Kompositionen mit brüchigen Zwischengliedern, in denen reine Vermutungen schnell zu klaren Verbindungen zwischen Fakten mutiert sind.

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Auch die eigene Erfahrung solch gravierender Veränderungen – die so schnell und von kaum jemandem vorhersagbar passierten – hat die Begeisterung zur Suche nach langfristigen Tendenzen in der Geschichte ebenfalls gedämpft. Schließlich sind ganze Imperien verschwunden wie Schneegestöber im Fluß, Industrialisierung hat mit der Geschwindigkeit eines Computervirus auf die unwahrscheinlichsten Gegenden übergegriffen, und ideologische Moden haben sich mit der Bereitwilligkeit von Rocksaumlängen geändert.

Die vielleicht bemerkenswerteste Tendenz in der neueren Geschichtsschreibung ist die Zerstückelung bisher für langanhaltende Phasen gehaltener Entwicklungen in immer kleinere Zeitabschnitte. Der Englische Bürgerkrieg beispielsweise, den man – aus einer Mischung aus Parteilichkeit und Kenntnis der auf ihn folgenden Ereignisse – gläubig für den Höhepunkt eines jahrhundertelangen stetigen „Fortschritts“ gehalten hat, wird von den meisten Experten inzwischen nur noch aus dem Kontext der zwei, drei unmittelbar vor seinem Ausbruch liegenden Jahre erklärt. Auch die Ursachen der Französischen Revolution und des Ersten Weltkriegs sind ähnlich beschnitten worden, und sogar die Entwicklung, die einmal als industrielle Revolution bezeichnet wurde, wird heute eher als zögernder Start – oder Serie von Starts und Fehlstarts – gesehen und nicht mehr als ein langsames Sichsammeln zum schließlichen Ereignis.

Derweil schickt sich die relativ neue Disziplin der historischen Ökologie an, gegen eine der ältesten historischen Konventionen überhaupt zu verstoßen. „Homo sum et nihil humanorum alienum puto“ (Ich bin Mensch, und nichts Menschliches ist mir fremd) wird revidiert. Und die Einbeziehung der Natur in die Welt der Historiker ist eine noch radikalere Innovation, als es die Einbeziehung marginalisierter Gruppen schon war.

Daß man Menschen nur sehr bedingt als von ihrem Ökosystem unabhängig studieren kann, in dem ihr Leben sich abspielt, ist der historischen Zunft von politischen Ökologen und gewissen holistischen Tendenzen in Geographie und Anthropologie nahegelegt worden. Eine solche Auffassung kommt einer Revolution gleich, denn obwohl der Mensch nur wenig Platz im Gesamtbild des historischen Ökologen einnimmt, bleibt er doch noch das wichtigste Element darin; für einen Historiker vom Mars jedoch könnte es ganz so aussehen, als ob der Weizen die dominante Spezies unseres Planeten ist, die äußerst geschickt menschliche Bewegung für ihre Vermehrung und globale Verteilung auszunutzen wußte.

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Aber je mehr Geschichte sich einerseits auch den Einflüssen der Naturwissenschaften öffnet, so wird sie andererseits auch immer weniger „wissenschaftlich“. Aus Strukturalismus und Poststrukturalismus ist ein Humanismus erwachsen, der einen Text mehr als Evidenz seiner selbst denn als Mittel zur Rekonstruktion von Ereignissen goutiert. Eine neue Wertschätzung alles Alten ist entstanden, derzufolge man in Müllhaufen wie Schatzkisten gleichermaßen lehrreiche Objekte finden kann. Historiker verlassen die Archive und gehen an die frische Luft, spazieren durch Wälder, flanieren durch Straßen und schlußfolgern aus dem, was sie in Landschaften und Städten „lesen“. Die Avantgarde nimmt zur Bestürzung derer, die immer noch nach objektiven Wahrheiten suchen, oral history und selbst persönliche Erfahrung in ihre Werke auf. Das Schönste daran ist, daß es jetzt wieder Geschichtsbücher gibt, die sowohl gelehrt als auch gut geschrieben sind. Große Geschichte wird, wie alle Literarisierung auch kleinerer Ereignisse, an einem roten Faden entlang erzählt, der sich durch die Berührung von Erfahrung und Phantasie ergibt. Wenn sie gut geschrieben ist, hat diese Form der Geschichtsschreibung alle Stärken aufzuweisen, die guten Intellektuellenromanen zu eigen sind – plus der besseren Stories.

Vergangenheit hat, wie es aussieht, eine große Zukunft.

Auszug aus: Felipe Fernandez-Armesto, „Millennium: a history of our last thousand years“. Erscheint im September 1995 bei Bantam Books.