Draußen ist ein Leben

■ Oliver Sacks, schreibender Neurologe, Spaziergänger und "Star-Trek"-Addict will vor allem wissen, wie aus losen Nervenenden Individualität entsteht

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ hieß eine erste Sammlung von Fallgeschichten, mit der der Neurologe Oliver Sacks auch in Deutschland bekannt wurde. In seinem demnächst bei Rowohlt erscheinenden neuen Buch „Eine Anthropologin auf dem Mars“ wird ein Maler porträtiert, der nach einem Unfall farbenblind wurde, ein Chirurg, der am Tourette-Syndrom leidet, eine autistische Ingenieurin. Es sind zum Teil durchaus Erweckungsgeschichten, aber wer will, kann den metaphysischen Aspekt komplett ignorieren und Sacks dabei verfolgen, wie er versucht, Licht in den Neuronendschungel zu bringen und den Patienten mit Hilfe erstaunlicher Finessen Erleichterung zu verschaffen.

taz: Herr Sacks, haben Sie eine Erklärung dafür, daß Ihre Fallporträts sich solcher Beliebtheit erfreuen, vom Neurologieprofessor bis zur „Brigitte“-Leserin? Könnte es daran liegen, daß sie fast etwas wie moderne Märchen sind? Jemand leidet unter einem Defizit, als sei er „verflucht“, und dann eröffnet sich ihm plötzlich eine neue Welt, wie dem Maler, der nach einem Unfall farbenblind wurde.

Oliver Sacks Es könnte sein, daß Sie recht haben: daß in diesen Fallbeschreibungen tatsächlich Metaphern, Mythen oder Märchen enthalten sind, von denen Menschen sich angesprochen fühlen. Vor allem, wenn meine Patienten „erwacht“ sind, denkt man an Dornröschen, Rip van Winkle, an Galatea. Oder auch an literarische Figuren. Letzten Sommer fuhr ich auf eine Insel im Pazifik, auf der es seit zweihundert Jahren eine große Anzahl Farbenblinder gibt. Mein nächstes Buch wird sich darum drehen. Der Stil der Kleidung, die Lebensweise, die Kunst, die Sprache – alles ist von dieser Tatsache beeinflußt. Übrigens ist das, was man bei diesen Patienten antrifft, nicht einfach ein „Defizit“. Es sind oft aktive Überlebensstrategien, die darauf abzielen, zur Not eben auf sehr ungewöhnliche Weise zu überleben. Es geht dabei nicht nur darum, mit etwas zurechtzukommen, oft geht es um die Konstruktion einer völlig neuen Welt.

Bei so etwas Zeuge zu sein, und später darüber zu schreiben – was ist das für eine Rolle, ist da ein Messianismus im Spiel?

Ich bin tatsächlich mehr als nur ein Zeuge. Angesichts der häufigen Unheilbarkeit neurologischer Erkrankungen kann es schon vorkommen, daß ich medizinisch nicht viel tun kann. Was ich jemandem sagen kann, ist: es ist nicht alles verloren, obwohl es vielleicht so aussieht. Die Welt ist immer noch da, auch wenn man sich ihr vielleicht auf eine andere Weise nähern muß. Ich ermutige eine Art von Transformation, einen Rückgriff auf verschüttete Ressourcen. Es geht nicht um die klassische medizinische Wiederherstellung, sondern um eine, die sowohl existentiell als auch neurologisch ist. Mein Haupteinwand gegen den Film „Awakenings“ [gedreht nach Sacks' gleichnamigen Buch, d. R.] ist, daß er sich auf den Sommer 1969 beschränkte, als sich ein chemisches Fenster öffnete und wieder schloß, auf die Magie eines Medikaments. Denn obwohl das tatsächlich die Situation damals war, muß man wissen, daß die meisten der Leute noch viele Jahre danach lebten und fanden, daß sie das Leben irgendwie bewältigen konnten. Sie haben Beziehungen gefunden, ihrem Leben Bedeutung gegeben, sogar ein Gefühl von Identität war möglich.

Da draußen ist noch ein Leben ... Wie sieht denn so ein Oliver Sacks-Tag aus?

Vielleicht habe ich unabsichtlich den Eindruck erweckt, daß mein Leben irgendwie exotisch und jet-set-mäßig ist. Ich arbeite seit 29 Jahren in diesem Krankenhaus in der Bronx, an dem sich die meisten dieser Fälle abgespielt haben. Die eine Hälfte der Woche bin ich dort, die andere verbringe ich in anderen Krankenhäusern. Einen halben Tag in der Woche sehe ich Privatpatienten. Gelegentlich bekomme ich einen Brief oder einen Anruf über einen Fall, der mich interessiert, und dann würde ich am liebsten alles stehen und liegen lassen, um dort hinzufahren. Wann immer ich kann, schreibe ich. Ich habe eine wunderbare Assistentin, die meine Erinnerung, mein vorderer Hirnlappen, mein Antrieb ist. Ansonsten ist mein Leben, was die Geselligkeit angeht, ziemlich eingeschränkt. Ich verbringe soviel Zeit wie möglich in Swimming-pools und Botanischen Gärten. Ich mag Wochenenden nicht.

Und Sie haben es gern kalt ...

Ich habe es gern kalt. Obwohl ich sagen würde, andere Leute mögen es unangemessen heiß. [Während seiner Vortragsreise mußte die Pressebetreuung des Rowohlt- Verlags schlotternd dafür sorgen, daß nie mehr als 15 Grad in Zimmern und PKWs herrschten, in denen Sacks sich aufhielt, d. R.]

Irgendwie gelingt es aber der Popkultur mitunter, zu Ihnen durchzudringen. Sie ziehen eine Verbindung zwischen Science-fiction und dem Selbstempfinden von Autisten.

Sehen Sie „Star Trek“? I love it! Ich kann es nicht ertragen, während der Sendezeit angerufen zu werden. Ich bin sogar mal auf dem Set in Los Angeles gewesen und habe Data [dem Crewmitglied ohne Gefühle, das sich menschliche Reaktionen mühsam zusammenrechnen muß, d. R.] erzählt, daß er für Autisten in aller Welt ein Held ist. Er wußte nicht so ganz, wie er das nehmen sollte (lacht).

Ich bin auch mal mit einem Patienten zu einem Grateful Dead Konzert gegangen [im neuen Buch beschrieben, d. R.]. Ich habe die Sixties irgendwie völlig verpaßt, und überhaupt glaube ich, daß mir eigentlich nichts gefällt, was nach 1790 gemacht wurde (lacht). Wenn ich es genau bedenke, ist „Star Trek“ das einzige, was ich jemals im Fernsehen sehe. Die letzten beiden Male, die ich im Kino war, habe ich Kinderfilme gesehen, „Das Dschungelbuch“...

Sie leben in New York. Verfolgen Sie aktuelle Debatten über Ethnizität, Geschlechterwirrwarr? Für einige New Yorker Exponenten der postmodernen Literaturkritik sind Sie ein Materiallieferant, was fragmentierte Subjekte und die Inkohärenz des metaphysischen Denkens angeht.

Geschlechterthemen bringen mich furchtbar durcheinander. Ich halte keine Tageszeitung. Ich bin nie wählen gegangen. Ich war mal beim „March of the Death“ auf Washington dabei, aber das war ein Einzelfall. Ich setze mich für bestimmte Selbsthilfegruppen von Autisten oder Leuten mit Tourette-Syndrom ein. Mein Leben hätte man genausogut oder besser in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts leben können.

Ich bin ein kompletter Ignorant, was postmoderne Philosophie und Literaturkritik angeht. Wenn irgendetwas, bin ich wohl eher prämodern (kichert).

Näher an Rousseau als an Freud, zum Beispiel?

„Der Mensch ist frei geboren, aber lebt überall in Ketten“? Ich weiß nicht, Rousseau ... Kann schon sein, daß auf der Ebene, mit der ich es zu tun habe, das Selbst und das Subjekt weniger fragmentiert sind als auf der Ebene von Objektbeziehungen und Instinkten, mit denen Freud es zu tun hatte. Mich interessiert das kognitive Unbewußte, wenn man so will, die Prozesse, durch die eine visuelle Welt entsteht.

Ich bin immer wieder sehr beeindruckt von der Robustheit und Persistenz von Individualität auf einer neurologischen Ebene. Als Medizinstudent sah ich einen alten Mann, der mich sehr bewegt hat. Er lag im urämischen Delirium und starb daran, und trotzdem, mitten im Delirium und der ganzen Inkohärenz beschrieb er Ereignisse seines Lebens, Menschen, die er getroffen hat. Ich habe ihm Stunden und Tage zugehört. Er wußte nicht, daß ich da saß, aber er hat mir von seinen Hoffnungen und Ängsten erzählt. Das Gefühl von Selbst, Leben, trotz der tausend Kreisläufe des deliranten Gehirns, hat mich ebenso beeindruckt wie Vorgänge, die man bei Patienten mit Alzheimerscher Krankheit entdecken kann. Als Henry James starb, lag er auch im Delirium und fantasierte vor sich hin. Die Leute sagten: „Das war purer Henry James! Late Henry James!“ (lacht) Stil, Identität, Charakter finden sich irgendwie im Körpersystem, in der Wahrnehmung, bei Lernprozessen und bleiben erhalten durch die schlimmsten neurologischen Mißgeschicke hindurch. Da gibt es etwas, das einen „Ich“ sagen läßt.

Wo kommt das her?

Eins der Dinge, die die Neurologie einem aufdrängt, zum Beispiel bei Menschen, die keine Farben oder keine Bewegung sehen können, ist, daß es im Gehirn Hunderte und Tausende separater Systeme gibt, die in gewissem Sinn alle autonom sind und für die es keine Leitungszentrale gibt, und die trotzdem in permanenter Konversion und Korrelation miteinander stehen. Und aus dieser ungeheuren Vielfalt von Systemen kommt dieses simple Gefühl von „Ich“. Das zentrale Rätsel ist also, glaube ich, wie man an diese scheinbar nahtlose subjektive Welt herankommt angesichts all diesen Systemwirrwarrs. Auf der einen Seite möchte ich Menschen unter dem Gesichtspunkt dieser Schaltkreise und so weiter betrachten, auf der anderen Seite als geschichtliche und charakterliche Identität.

Zu was genau verhilft Ihnen die kognitive Psychologie?

Ich glaube, es ist wichtig, sehr genau zu erfassen, was jemand kann und welche Strategien er hat, mit den Defiziten umzugehen. Noch wichtiger ist allerdings zu wissen, wie jemand etwas macht. Da gibt es diese schöne Geschichte von dem Redakteur, der von seinem Chef zu dem Neurologen Luria geschickt wird, weil er sich an alles erinnern kann. Er macht keine Notizen, er scheint nie zuzuhören, aber was immer jemand zu ihm oder zu anderen sagt, ist unauslöschlich in seine Erinnerung eingraviert. Luria stellt fest, daß die Kapazitäten des Mannes in der Tat grenzenlos sind. Statt dessen befaßt er sich mit dem Denken und dem Imaginären, von dem diese enormen Speicher umgeben sind. So entsteht die Landschaft eines Geistes.

Was sind für Sie die wichtigsten Neuerungen in der modernen Neurologie? Worauf hoffen Sie?

Auf einer technischen Ebene die Fähigkeit, das lebende Gehirn in immer größerer Detailgenauigkeit zu beobachten und darzustellen, während der Betroffene denkt, wahrnimmt, sich etwas vorstellt oder etwas tut. Es wird an der Entwicklung von Aufnahmegeräten gearbeitet, die die Tätigkeit unzähliger Neurone verschiedener Teile des Gehirns simultan aufzeichnen, ohne den Patienten zu verletzen. Auf einer konzeptionellen Ebene finde ich einige der übergreifenden Theorien sehr ermutigend, wie zum Beispiel die von Adelman, die sehr vielversprechende Hinweise darauf gibt, wie das Gehirn von den einfachsten Wahrnehmungen bis zum kompliziertesten Bewußtsein konstruiert und kategorisiert, einem höchst individuellen Bewußtsein übrigens. Ich glaube, man kann da ganz in der Ferne etwas aufscheinen sehen wie neurologische Korrelate der Individualität. Und sogar die Möglichkeit, sie zu simulieren. Das finde ich ungeheuer aufregend.

Interview: Mariam Niroumand