Abschiebung in die Folterkammer

Nach Ansicht deutscher Beamter hatte der Kurde Hikmet Artan in der Türkei nichts zu befürchten / Nach der Abschiebung wurde er gefoltert und steht aus politischen Gründen vor Gericht  ■ Von Helmut Oberdiek

Berlin (taz) – „Es ist, als ob mein Bruder wiederauferstanden wäre“, sagt Nezir Artan. Vor sieben Jahren flüchtete der 37jährige zusammen mit seinem jetzt 25jährigen Bruder Hikmet aus dem türkischen Ort Nusaybin an der syrischen Grenze, um in Deutschland Schutz zu suchen. „Hätten wir uns nicht überall nach ihm erkundigt, wäre er verschwunden, wie viele davor.“ Dann fügt der Kurde hinzu: „Deutschland muß die Folter an ihm verantworten, denn er wurde zu Unrecht abgeschoben.“ Dies sagt er nicht nur in bezug auf die vier Tage Polizeihaft nach der Abschiebung des Bruders am 1. September 1993. Die hatte Hikmet Artan fast vergessen, als er am 14. Februar dieses Jahres seinen Militärdienst beendete.

Endlich dem verhaßten Dienst entronnen, hatte Hikmet keinen sehnlicheren Wunsch, als möglichst schnell nach Nusaybin zu gelangen, wo er sich inzwischen verlobt hatte. Er kam jedoch nie zu Hause an und meldete sich auch nicht telefonisch.

Zwei Wochen war er „verschollen“. Anonyme Anrufer deuteten den Eltern die Festnahme an. Amnesty international, der Türkische Menschenrechtsverein und Anwälte wurden eingeschaltet. Nach zwei Wochen dann ein erstes Lebenszeichen. In Ergani, einem Ort vor Diyarbakir, habe man ihn am 22. Februar festgenommen. Demnach hatte Hikmet Artan acht Tage für eine Eintagesfahrt gebraucht. Nezir Artan: „Sie haben meinen Bruder nicht registriert, um ihn verschwinden zu lassen. Nur wegen des Interesses aus dem In- und Ausland haben sie ihn ,wiederauferstehen‘ lassen.“

Fast drei Monate saß Hikmet Artan im politischen Gefängnis von Diyarbakir. Am 25. Mai begann sein Prozeß wegen „Hilfe und Unterschlupf für PKKler“. Wohl aufgrund des internationalen Interesses an dem Fall entschieden die Richter, Hikmet Artan vorläufig auf freien Fuß zu setzen. Aber das Verfahren geht im August weiter, dann drohen ihm viereinhalb bis siebeneinhalb Jahre Haft.

Dabei hatten alle deutschen Instanzen Hikmet Artan bescheinigt, daß er in der Türkei nicht gefährdet sei. Am 29. 6. 92 hatte das Verwaltungsgericht Koblenz seine Klage abgewiesen. Kurzfristige Verhaftungen waren nicht asylrelevant, und der Kläger war für das Gericht aufgrund von Widersprüchen in seinen Erzählungen unglaubwürdig. „Folgerichtig“ war auch der Mord der Sicherheitskräfte an seiner Schwester Hacire eine erfundene Geschichte, denn offiziell wurde ein Hirnödem als Ursache attestiert. Die Familie weiß es besser. Im April 1989 hatten Spezialeinheiten der Polizei in der elterliche Wohnung nach den geflohenen Söhnen gefragt. Da auch die 15jährige Schwester keine Auskunft gab, faßte man sei bei den Haaren und schleuderte sie gegen die Wand. Am nächsten Tag war sie tot. Trotz des ablehnenden Urteils gaben Hikmet Artan und sein Anwalt Rudolf Renner nicht auf. Am 6. 8. 93 stellte der Anwalt einen Folgeasylantrag, in dem er auf die Aktivitäten seines Mandanten nach der Flucht und die exponierte Stellung seines Bruders hinwies. Nezir Artan, der selbst noch mit Frau und fünf Kindern um seine Anerkennung als Flüchtling ringt, hatte nämlich 1992 für das Kurdische Nationalparlament kandidiert. Das war in türkischsprachigen Organen publiziert worden.

Mit einer Kopie des Antrags ging Hikmet Ende August 1993 zur Ausländerbehörde Simmern, um seine Duldung zu verlängern. Er wußte nicht, daß in Rheinland- Pfalz gerade ein Abschiebestopp ausgelaufen war. Pflichtbewußt bekam er auf dem Amt keine Duldung, sondern wurde inhaftiert und ein paar Tage darauf nach Istanbul abgeschoben. Heute möchte die Behörde nichts von diesem „Formfehler“ wissen. Ein Folgeantrag habe nicht vorgelegen, heißt es lapidar.

In Istanbul hielt ihn die Polizei nicht nur für einen „Drückeberger“. Vor seiner Zwangsrekrutierung wurde er von zivil gekleideten Beamten mit verbundenen Augen an einen unbekannten Ort gebracht. Vier Tage wurde er zu Auslandsaktivitäten und deren „Hintermännern“ befragt. „Das waren vier Tage Folter“, meint sein Bruder, der später mit ihm telefonieren konnte.

Eine Beschwerde über Folter gab es nicht, denn die Familie hatte nur eine Sorge: „Der Junge soll ohne Schaden das Militär überstehen.“ Er hatte Glück, mußte nicht ins Kriegsgebiet und wurde wegen seiner Deutschkenntnisse zum Fahrer des Kommandeurs in Merzifon, in der Nähe des Schwarzen Meeres. Während seiner Dienstzeit wurde die Wehrpflicht von 15 auf 18 Monate heraufgesetzt, damit mehr Soldaten für den „Kurdenkrieg“ zur Verfügung stehen.

Die verspätete Entlassung aus dem Militär sollte für Hikmet aber immer noch nicht Freiheit bedeuten. Nach seiner Verhaftung wurde er zwei Wochen lang verhört. Noch konnte er niemandem etwas über diese Verhöre sagen. Sein Anwalt und seine Eltern, die ihn im Gefängnis besuchen durften, berichteten jedoch, daß Hikmet kaum aufrecht stehen konnte. „Seine Lippen waren angeschwollen, und sein Gesicht war aufgedunsen. Er wußte nicht mehr, was er der Polizei gesagt hatte.“

Sein „Geständnis“ hat er demnach wohl unterschrieben, ohne es gelesen zu haben. Die Anklageschrift nennt die Aussage „ausweichende Einlassungen“ des Angeklagten. Zum Verhängnis wurde Hikmet Artan, daß fast zeitgleiche Ermittlungen in seiner Einheit ein „PKK-Komitee“ von mindestens sieben kurdischen Wehrpflichtigen ausgemacht haben wollten. In den Verhören gestand Hikmet Artan, diesem Komitee anzugehören und „PKK-Propaganda“ betrieben zu haben. Einmal, im Jahre 1991, habe er außerdem in seiner Heimat einem PKK-Kämpfer Geld gegeben, damit der für sich und seine Freunde Sportschuhe kaufen konnte. „Dabei war er das ganze Jahr in Deutschland“, weiß sein Bruder Nezir, „ohne Folter hätte er diesen Unsinn nicht erzählt.“ Derzeit würde es Hikmet Artan wohl wenig freuen, wenn er wüßte, daß sein Asylverfahren in Deutschland noch nicht beendet ist. In der Tat wurde für den 27. September 1994 eine Anhörung beim Bundesamt in der Kasernenstraße in Neustadt an der Weinstraße terminiert. Rechtsanwalt Rudolf Renner mußte absagen, denn es gab keinen Weg für Hikmet, von seiner Kaserne in die Kasernenstraße zu gelangen.