"Die Türken waren dumm"

■ In Irakisch-Kurdistan hinterließen Soldaten eine Spur der Verwüstung

Selim Fausi hat vieles gesehen in seinem Leben. 1988 flüchtete der irakische Kurde vor irakischen Flugzeugen in die Türkei, wo er in einem Lager bis zum Ausbruch des kurdischen Aufstandes im Nordirak als Flüchtling lebte. 1992 kehrte er zurück in sein Dorf, baute sein Haus mit Hilfe der Schweizer Caritas auf und begann seine Obst- und Gemüsegärten sowie seine kleinen Weizenfelder zu bestellen.

Im März dieses Jahres flüchtete er vor türkischen Soldaten, die in einer Großoffensive gegen die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) über die Grenze gekommen waren. Als er vor zwei Wochen wieder zurückkam, stellte er fest, daß sein Dorf von türkischen Flugzeugen bombardiert worden war. „Warum haben sie mir das angetan?“ fragt der alte Mann fassungslos und zeigt auf sein verkohltes Haus. „Die Bomben waren schlimm genug. Aber warum haben sie die Bienenwaben zerstört, den Weizen aus den Säcken gerissen und sogar unsere mit Wolle gefüllten Matratzen aufgeschlitzt?“

Der Haß der nach türkischen Angaben 35.000 oftmals blutjungen türkischen Soldaten, die diese Gegend Dorf für Dorf durchkämmten, muß sehr groß gewesen sein. Anders lassen sich die Spuren ihrer Zerstörungswut nicht interpretieren.

Das eigentiche Ziel der Operation wurde allerdings weit verfehlt. Als die Türken einmarschierten, bewegten sich die PKK-Truppen gegen Osten. Als die Türken wieder abzogen, kehrte die PKK zu ihren ursprünglichen Stellungen zurück. „Nichts hat sich geändert“, erklärt ein Vertreter der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP). Er mahnt zur Vorsicht beim Besuch von Gebieten nahe der türkisch-irakischen Grenze, weil dort die PKK wieder das Sagen habe. In der Tat spazieren PKK-Partisanen munter umher. Gelegentlich blockieren sie Straßen und nehmen für einige Stunden Zoll von den Passanten. Auch im Dorf von Selim Fausi sind sie wiederaufgetaucht. „Wir können gegen die PKK nichts machen, die haben seit einigen Monaten ihr Lager in der Nähe unseres Dorfes. Wir sind nicht in der Lage, sie zu verjagen“, meint ein Nachbar von Fausi. Zwei junge PKK-Kämpfer, die kurz vor dem Dorf anzutreffen sind, sagen, daß die türkischen Soldaten ihr Lager zwar entdeckt, aber nicht beschädigt hätten. „Was heißt schon Lager? Einige Wolldecken und Nahrungsmittelvorräte. Das haben wir versteckt. Die Türken können uns nie besiegen“, erklärt einer von ihnen. Er und sein Kollege, ein Kurde aus Syrien, sind sichtlich verlegen, als das Thema auf den Schaden kommt, den die türkischen Soldaten in den Dörfern angerichtet haben. „Natürlich tut uns das leid, wir haben es unserer Führung gemeldet und hoffen, die Leute werden entschädigt“, ist ihre knappe Antwort, bevor sie weitermarschieren in ihren Militärjacken, die sie von toten türkischen Soldaten genommen haben.

Die über 13.000 Menschen, die aufgrund der türkischen Militäroperation ihre Dörfer verlassen mußten, haben auf den türkischen Abzug unterschiedlich reagiert. Ein Teil von ihnen wagt sich wie Fausi nur tagsüber ins Dorf, um dort die dringendsten Feldarbeiten zu erledigen. Gewohnt wird weiterhin in Zelten oder bei Verwandten, ein bis zwei Stunden Fußmarsch vom Dorf entfernt. Andere Menschen sind endgültig zurückgekehrt. „Wenn wir jetzt nicht zurückgehen, verlieren wir die Ernte“, sagt eine junge Kurdin, die ihr Hab und Gut, inklusive eines Huhns, auf ihren Esel geschnürt hat und auf der Rückkehr in ihr abgelegenes Dorf ist.

Die im Nordirak tätigen internationalen Hilfsorganisationen versuchen, trotz der unübersichtlichen Situation, Gelder für zusätzliche Nahrungsmittel und Decken aufzutreiben. „Das Hauptproblem der Menschen ist die Zerstörung von Lebensmittelvorräten und die Verzögerung in der landwirtschaftlichen Produktion“, sagt Samad Khan, einer der UNO-Koordinatoren für Hilfsaktionen im Nordirak. Wie die meisten Vertreter von Hilfsorganisationen im Norden Iraks ist er der Ansicht, daß sich die Türkei durch ihre Offensive vor allem selbst geschadet hat. Die türkischen Soldaten haben die Helfer an der Arbeit gehindert. Sogar UN-Soldaten, die nach internationalem Recht in allen Gebieten ungehindert herumfahren dürfen, wurden in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Gerade diese österreichischen, tschechischen und dänischen Polizisten begannen während der türkischen Besatzung die PKK mit anderen Augen zu sehen.

„Die Türken waren dumm. Wenn sie ein wenig höflich gewesen wären, hätten sie alle auf ihre Seite ziehen können, von den Organisationen bis zur Bevölkerung. Doch sie taten das Gegenteil“, betont Necirvan Barsani, zweiter Mann der KDP. Wie es weitergehen soll mit dem „PKK-Problem“ in der Region, ist ungewiß. Letzten Monate kehrte eine KDP-Delegation unverrichteter Dinge aus Ankara zurück. Laut türkischen Presseberichten verlangten die irakischen Kurden von der türkischen Regierung 35.000 US-Dollar und versprachen dafür, die PKKler am Übertreten der Grenze zu hindern. Für die KDP, die das Grenzgebiet zur Türkei kontrolliert, ist die PKK ein Dorn im Fleisch. Will die KDP das Grenztor zur Türkei und die damit verbundenen Zolleinnahmen nicht verlieren, muß sie etwas gegen sie unternehmen.

Die rivalisierende „Patriotische Union Kurdistans“ (PUK), die mit Hilfe ihres früheren Erbfeindes Iran einen Großteil der Gebiete entlang der iranisch-irakischen Grenze sowie die kurdische Hauptstadt Erbil kontrolliert, hat da mehr Freiheiten. Das größte PKK-Lager befindet sich derzeit auf ihrem Boden. „Es handelt sich um ein Ruhelager“, erklärt PUK- Chef Dschalal Talabani. Er hat der Türkei versprochen, daß von PUK-Gebiet keine PKK-Guerillas mehr operieren werden, will aber nicht gegen die PKK vorgehen.

Für den PUK-Chef bildet das türkische Militär keine Gefahr, solange es im von der KDP kontrollierten Norden des kurdischen Nordiraks bleibt. Ernst würde die Lage für Talabani allerdings dann, wenn die Türkei ihren immer mal wieder geäußerten Wunsch nach Einverleibung des ehemals osmanischen Vilayet Mosuls verwirklichen sollte. Irakisch-Kurdistan wäre damit ein Teil der Türkei. Erst vor wenigen Wochen schürte der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel solche Sorgen, indem er in einer Rede von einer Verlegung der türkisch-irakischen Grenze sprach. Cristina Karrer, Salahadin