Leid hinter nackten Zahlen

■ betr.: „Millionen vom Sozialamt abhängig“, taz vom 7. 6. 95

Während das Gehalt von Günther Jauch und anderen überdurchschnittlich gut verdienenden Mitgliedern unserer Gesellschaft in den Medien derzeit eine große Rolle spielt, wird denjenigen, die sich in materiellen Notlagen befinden, immer weniger Beachtung geschenkt. An Armut und Elend in unserem Land scheinen wir uns gewöhnt zu haben. Doch diese Entwicklung ist fatal: Schließlich wird verdrängt oder einfach verkannt, welches Leid sich hinter den nackten Zahlen für die Sozialhilfeempfänger versteckt. Deutschland steuert rasant auf die Zwei-Drittel-Gesellschaft zu – das ist keine Vision von kritischen Sozialpolitikern, sondern mittlerweile bittere Realität.

Nicht nur Arbeitslose, auch viele Erwerbstätige mit Niedriglöhnen geraten zunehmend in Schwierigkeiten. Das sinkende Selbstwertgefühl, weil das Auskommen nicht mehr eigenständig erarbeitet werden kann, die Sicherung des Lebensunterhaltes also nur noch mit staatlicher Hilfe möglich ist, führt besonders in jungen Familien zu dramatischen psychischen Problemen: Die Eltern können die Miete nicht mehr bezahlen, sehen sich an den Rand der Existenz getrieben, fühlen sich gedemütigt. Dies führt fast selbstverständlich zu einer Vergiftung der Atmosphäre – Eheprobleme und Scheidungen sind häufig die Folge. Daß die Kinder besonders unter dem Zerbröckeln ihrer Familie zu leiden haben, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Welcher soziale Sprengstoff hinter dieser Entwicklung steckt, läßt sich nur erahnen.

Wenn die nächste Generation die Erblast ihrer Eltern nicht übernehmen und ebenfalls millionenfach den Weg zum Sozialamt, der einem Gang nach Canossa gleicht, antreten soll, muß endlich eine verantwortungsvolle Sozialpolitik die oberste Devise sein. Wir fordern deshalb neben einer konzertierten Aktion zur Schaffung neuer Arbeitsplätze die sofortige Erhöhung der Sozialhilfe um zehn Prozent sowie die Anhebung des Kinderfreibetrages auf mindestens 7.500 DM pro Jahr, um den betroffenen Familien ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Denn unsere Kinder verdienen wirklich eine günstigere Perspektive als ein Leben in Armut. Wolfgang Lütjens, Vorsitzender, Deutsche Hilfe für Kinder von

Arbeitslosen e.V., Hamburg