Frauenrechte und Muslimstaat

Der islamische Staat ist nicht theokratisch / Gewalt gegen Frauen in ökonomischen Krisen / Auszüge aus einem bisher unveröffentlichten Essay  ■ Von Fatima Mernissi

Wenige Worte im gegenwärtigen politischen und ideologischen Sprachgebrauch sind so mißbraucht worden wie das Wort Islam. Dieser Begriff, der Frieden und Unterwerfung beinhaltet, beschwört nun Bilder von Gewalt, Totalitarismus und Irralitionalität herauf. Spekulationen über die Friedenschancen im Nahen Osten kreisen gewöhnlich um die beschämend rassistische Frage: Sind Islam und Demokratie kompatibel? Die Frage ist rassistisch, nicht nur weil sie ein Bündel komplexer Widersprüche zwischen islamischen und westlichen Staaten zu einem Gegensatz zwischen einer mittelalterlichen Religion und einem modernen politischen System reduziert, sondern auch, weil ein westlicher Mensch automatisch Rationalität der Demokratie und Irrationalität dem Islam zuordnet. Es scheint mir, daß wir die Frage von Islam und Demokratie neu formulieren müssen. Der erste Schritt ist, zu vergleichen, was vergleichbar ist: liberale Demokratie und Muslimstaat als zwei Regierungsformen. Was ist die Natur des Muslimstaates? Ist die Autorität des Muslimherrschers göttlich wie in der christlichen Kirche? Wenn das so ist, ist der Muslimstaat unwiderruflich irrational. Montesquieu zum Beispiel behauptete, daß die Autorität des muslimischen Despoten göttlich sei. Wenn wir Montesquieus Modell des „orientalischen Despoten“ folgen, wie können wir dann erklären, daß das mittelalterliche Europa durch eine enorme Ignoranz und intellektuelle Stagnation gekennzeichnet war, während die Wissenschaft in den muslimischen Gebieten florierte? Wie können wir außerdem erklären, daß die muslimischen Staaten nur ausnahmsweise zum Mittel der Inquisition griffen, während die christliche Kirche sie über Jahrhunderte als offizielle Politik praktizierte? Außerdem, wenn die Autorität des muslimischen Herrschers göttlich ist, warum hätte Khomeini „seinen“ Iran als Republik ausrufen sollen, sobald er an die Macht kam? Wie können wir erklären, daß algerische Fundamentalisten ihren Regierungsanspruch mit dem Verweis auf ihren Wahlerfolg rechtfertigen? Wenn islamische Macht göttlich ist, warum brauchen islamische Politiker dann Wahlen als evident westliche Institution, während sie predigen, daß der Westen die Verkörperung des korrupten Teufels ist?

In ihrer Einführung zu „Western Republicanism and the Oriental Prince“ zeigt Patricia Springborg die immense Verwirrung auf, die solche Schlüsselfiguren des westlichen politischen Denkens wie Max Weber und Karl Max bezüglich islamischer Institutionen befallen hat. „Es ist wert, betont zu werden“, bemerkt Springborg, „daß jedes der Beispiele für die administrative, wissenschaftliche und technische Überlegenheit des Westens über den Osten, die Weber in seinem Vorwort zu ,Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus‘ benennt, falsch ist ...“

Weil die Autorität des Muslimherrschers inhärent weltlich ist, wird er nicht durch die Wissenschaft bedroht, sondern durch Pluralismus. Weil seine Legitimität auf der Erde verbleibt, kann er Macht nur monopolisieren, wenn er die Fiktion schafft, daß sein „Wille“ mit der der Muslimgemeinschaft, der „umma“ zusammenfällt. Er muß deshalb die Leute davon überzeugen, daß die „umma“ homogen ist. Die zurechtgezauberte Homogenität kommt jedoch in Konflikt mit den Frauen, den religiösen und ethnischen Minderheiten und anderen, die gegensätzliche Interessen haben. Diese versucht der Herrscher mit allen Mitteln zu verschleiern und zum Schweigen zu bringen.

Al-Hakim, ein Kalif, der in Ägypten zu Beginn des 11. Jahrhunderts regierte, erklärte sich selbst als göttlich (Ta‘allaha) und blamierte sich in aller Augen: Er wurde schlicht für verrückt gehalten. Die Stadt Kairo war erleichtert, als er wenige Tage später auf mysteriöse Weise verschwand und delikaterweise durch seine Schwester Sitt al-Mulk ersetzt wurde.

Gewalt gegen Frauen war in ökonomischen Krisenzeiten üblich. Al-Hakim zwang Frauen, sich zu verschleiern, und verbot das Mischen der Geschlechter in der Öffentlichkeit, als Trockenheit und Überschwemmungen des Nils Inflation und soziale Unruhen hervorbrachten. Er ließ Weinstöcke zerstören, verbot Männern, gemeinsam mit Frauen im selben Boot zu reisen, er zwang Christen und Juden, spezielle Kreuze und Gürtel zu tragen, usw. Bis heute ist das ein gebräuchliches Merkmal muslimischer Politik in ökonomischen Krisenzeiten geblieben. Der fundamentalistische Führer Scheich Abbas Madani zum Beispiel hat in langen Reden erklärt, warum Frauen die Wurzeln alles Übels in Algerien sind: „Der Genuß von Wein, die Koedukation in den Schulen und Universitäten hatten zur Folge, daß sich die Bastarde vermehrten. Die Verderbtheit hat um sich gegriffen, und wir sehen die Frau, die sich nicht mehr versteckt und vor den Augen der ganzen Welt ihren geschminkten und nackten Körper zeigt. Wo ist also die Würde Algeriens, nachdem seine Ehre öffentlich beschmutzt wurde?“ Der saudiarabische König ordnete die Verschleierung an, um die Differenzen zu maskieren und eine theatralische Glaubwürdigkeit zu schaffen, daß seine männliche Autorität der homogenen „umma“ entstammt.

Das wahre Problem moderner Muslimstaaten aber ist ihre Ineffektivität und mittelmäßige Leistung. Indem sie Konflikte verschleiern, schneiden sie sich selbst von den Wurzeln der Vitalität und Kreativität ab. Und ein Muslimstaat, der nicht das Versprechen erfüllt, das ihn an die Macht gebracht hat, nämlich die Muslime reicher und mächtiger zu machen, kann tatsächlich nicht lange existieren.

Die liberalen Demokratien haben sich seit 1945 mit dem Saudi- Wahhabismus verbündet, das ist eines der extremsten religiösen Regimes im Nahen Osten. Diese Verbindung verschiebt die Balance der Macht zu Lasten der westlichen Kräfte, die nach dem Zweiten Weltkrieg im ganzen Nahen Osten höchst aktiv und stark waren. Trotz der offensichtlichen Beziehung zwischen Demokratisierung, der Entwicklung einer zivilen Gesellschaft und dem Status von Frauen und Minderheiten in der Gemeinschaft haben die Öl- und Waffenlobbyisten in den liberalen Demokratien die Rechte von Frauen und Minderheiten in der arabischen Welt in hartnäckiger Weise unterminiert.

Wenn das Ersticken der zivilen Gesellschaft und das Investieren in den Fundamentalismus bis in die Mitte der 80er Jahre eine profitable Strategie war, so machen doch andere Gründe die Demokratisierung in der arabischen Welt zum einzigen realistischen Szenario für das 21. Jahrhundert: der immense Bevölkerungsdruck, die Arbeitslosigkeit, die himmelhohe Staatsverschuldung, die Schließung der europäischen Grenzen für Immigranten und der vom Weltwährungsfonds erzwungene Rückzug des Staates aus sozialen Diensten. Der Schlüsselfaktor für die Zukunft ist, ob alle östlichen und westlichen Staaten die „globale“ Verantwortung für Freiheit, Pluralismus, Geschlechtergleichheit und Demokratie akzeptieren.