■ Ein Streitgespäch zwischen Uwe-Jens Heuer, ehemals Professor der Rechte und heute für die PDS im Bundestag, und Andre Brie, ehemals Gesellschaftswissenschaftler und heute im Parteivorstand der...
: "Wo geht's um Ideologie und wo um Politik

Herr Heuer, einige meinen, Sie und die anderen 37 Unterzeichner des Aufrufs seien nur „in großer Sorge“, weil Ihnen keiner zuhört.

Uwe-Jens Heuer: Das sehe ich anders. Nach der 1. Tagung des 4. Parteitages im Januar haben sich mehrere Leute an mich gewandt, die über den Zustand der Partei besorgt waren. Die haben sich getroffen und darüber diskutiert. So ist das Papier entstanden.

Sie wollen „keine andere Partei, nur eine bessere“. Aber läuft das, was sie in dem Aufruf kritisieren – Aufweichung des Oppositionsverständnisses, Verabschiedung vom Klassenkampf, Ausklammerung der Eigentumsfrage, Absage an SED und DDR –, nicht auf eine andere Partei hinaus?

Heuer: Wir meinen, daß das Programm und das Wahlprogramm der PDS vernünftiger Konsens der Partei sind. Den sahen wir nach dem 4. Parteitag gefährdet. Darüber wollten wir diskutieren.

André Brie: Daß in drei Punkten, die in dem Papier aufgeführt sind, der Grundkonsens der PDS verlassen wurde, entspricht nicht den Tatsachen. Für mich geht dieses Papier an den realen Problemen unserer Partei vorbei.

Es gibt in der PDS die ungelöste Frage ihrer Perspektive. Es ist nicht zu Ende diskutiert, wo sich die PDS im politischen Spektrum der Bundesrepublik einordnet. Wir haben, allgemein gesagt, einen antikapitalistischen, linkssozialistischen, demokratischen Charakter, aber was das heißt, ist nicht klar. Wenn wir darüber nicht endlich authentisch diskutieren, bleiben wir unfähig, diese Fragen zu lösen.

Dann diskutieren Sie hier darüber. In dem Papier heißt es, die PDS hätte sich vom Klassenkampf verabschiedet.

Brie: Die PDS hat in keinem einzigen ihrer Dokumente seit der Gründung 1989 diese Frage überhaupt thematisiert. Es ist deshalb Unsinn zu behaupten, sie sei davon abgewichen.

Was ist mit dem anderen „theoretischen“ Punkt – der Ausklammerung der Eigentumsfrage?

Brie: In der PDS sind fast alle der Meinung, daß die Eigentumsfrage für eine große gesellschaftliche Alternative, die aber nicht auf der Tagesordnung steht, entscheidend ist. Wir kommen alle von Marx, und diese Traditionslinie wollen wir auch nicht verlassen. Wir beantworten die Lösung dieser Frage, die Vergesellschaftung von Eigentum, grundsätzlich anders, als es in der DDR geschehen ist. Es geht um die Verfügung über das entscheidende Ergebnis von Eigentum – Gewinn und Profit. Um die Demokratisierung von Eigentum. Es muß eine Pluralität von Eigentumsformen geben. Das Verhältnis der Eigentumsformen zu einer demokratischen, strategischen Rahmenplanung der Gesellschaft muß geklärt werden.

Heuer: Es ist schwierig darauf zu antworten, weil André Brie „uns“ und „wir“ sagt, in dem Aufruf aber keine Namen genannt sind. Vielleicht stimme ich mit Brie mehr überein als mit anderen.

Zwei Anmerkungen: Die Frage des Klassenkampfes ist aufgeworfen worden, weil in den 10 Thesen des Parteivorstandes vor dem 4. Parteitag im Grunde genommen stand, der Klassenkampf wird durch einen Gesellschaftsvertrag ersetzt. Das halte ich für einen unvertretbaren Wechsel der Terminologie. Der Grundkonsens ist auch an anderer Stelle in Frage gestellt worden: bei unserem Verhältnis zur DDR. Wir haben in unserem Parteiprogramm die DDR als einen gescheiterten sozialistischen Versuch bezeichnet. Jetzt haben einige in der Partei die DDR dem Stalinismusverdikt unterworfen. Das ist ein Kampfbegriff. Ich halte dieses Verdikt für gefährlich, weil es die DDR auf eine einzige grobe Formel bringt.

Brie: Der Begriff „Gesellschaftsvertrag“ schillert genauso wie der des „Klassenkampfs“, wird auch genauso unterschiedlich verwandt. Wenn Gysi oder auch ich den Begriff „Gesellschaftsvertrag“ verwenden, dann heißt das nicht Klassenharmonie und auch nicht, daß wir prinzipienlos Kompromisse eingehen. Aber es heißt schon: In einem komplizierten Geflecht von Veränderungen läßt sich nichts auf zwei Pole reduzieren, Arbeiterklasse gegen Bourgeoisie, oder was weiß ich. Was hilft mir der Klassenkampfbegriff in den Auseinandersetzungen dieses Landes, wenn es keinerlei konkrete Bewegungen gibt, die sich dazu bekennen?

Heuer: Ich sehe uns im Moment im Abwehrkampf gegen eine Verschlechterung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sowohl außenpolitisch – der Drang Deutschlands, eine neue Großmachtrolle zu spielen, ist offensichtlich – als auch innenpolitisch. Es gibt einen strikten Rechtskurs, in dem viele Bestandteile des Sozialstaates aufgekündigt werden. Ich sehe weit und breit kein Kräfteverhältnis, das einen neuen Gesellschaftsvertrag von links ermöglichen würde. Und die PDS ist überhaupt nicht in der Lage, das zu organisieren.

Ich bin kein Anhänger einer Zwei-Lager-Theorie. Ich bestreite auch nicht, daß es neben den Klassenwidersprüchen noch andere gibt. Aber die Frage ist doch, welche Kräfte in der Gesellschaft wirklich imstande sind, dieser Entwicklung Widerstand zu leisten. Das Verkünden eines künftigen Gesellschaftsvertrages verbreitet nur Illusionen.

Brie: Die Wahrheit liegt tiefer. Wir werden nicht abwehren, wir werden nichts behaupten können ohne grundlegende Wandlungen. Das, was in der sozialstaatlichen, in der rechtsstaatlichen, in der Demokratieentwicklung in der BRD in den letzten 45 Jahren erreicht worden ist, ist in Gefahr. Das wird sich nicht verteidigen lassen, wenn man es auf heutiger Grundlage verteidigt. Wenn die Linke einfach nur sagt, sie wolle bewahren, und das sei der Kern, dann wird sie scheitern. Wir werden, wenn wir bewahren, erst recht, wenn wir weiterkommen wollen, grundlegende Veränderungen anstreben müssen – jenseits einer großen gesellschaftlichen Alternative.

Geht es um eine verbesserte Theoriediskussion, oder geht es um die Macht in der Partei?

Brie: (zu Heuer gewandt) Ihr wolltet doch keine theoretische Diskussion. Ihr seid einen hochpolitischen Schritt gegangen.

Heuer: Uns geht es um theoretische Diskussion. Wir wollen nicht, daß das Kommunistische Manifest einfach durch Gysis „Ingolstädter Manifest“ ersetzt wird. Der Vorwurf, wir wollten die Macht ergreifen, ist Unsinn.

Brie: Wo geht es um Ideologie, und wo macht man Politik? In dem Aufruf wird eben nicht nur ein theoretischer oder ideologischer Anspruch erhoben. Beide Parteien des Streits sind sich nicht darüber bewußt, wie aus solchen Dingen in der Mediengesellschaft sowie durch die Wirkung innerhalb der Partei Politik entsteht. Das ist ein Grundproblem der PDS: Wir sind uns nicht immer im klaren darüber, was wir tun. So ist aus dem Streit um den Aufruf, auch durch die scharfe Reaktion des Parteivorstandes, etwas geworden, was diskursfeindlich ist.

Natürlich hat Uwe-Jens Heuer recht, wenn er sagt, daß man die DDR nicht auf Stalinismus reduzieren kann. Aber auf dem außerordentlichen SED-Parteitag im Dezember 1989, dem Startpunkt der PDS, gab es für das, was wir in der DDR abgelehnt haben, nur einen Begriff: Stalinismus. Markus Wolf sprach vom „Stalinismus in den Farben der DDR“. Nun kann man als Wissenschaftler sagen, daß ist vereinfacht, das entspricht der Totalitarismusdoktrin. Aber aus dieser antistalinistischen Tradition kommen wir selbst, so sind wir 1989 gestartet. Wir können das nicht zurücknehmen.

Heuer: Wir können nicht alles, was seit 1917 passiert ist, einschließlich dessen, was heute in Kuba, China und Korea passiert, unter einen Begriff fassen. Die Wirkung davon ist, daß die Abgeordneten im Bundestag zu mir sagen: Herr Heuer, was reden Sie eigentlich hier, Sie sind doch Stalinist. Und diese Wirkung ist von der PDS ausgegangen. Im Vorfeld des 4. Parteitags ist von mehreren führenden PDS-Politikern gesagt worden, es gehe um einen Kampf zwischen Reformern und Stalinisten.

Brie: Das ist falsch. Nicht mal Sahra Wagenknecht ist von irgendeinem PDS-Politiker als Stalinistin bezeichnet worden.

Heuer: Aber wir 38 Unterzeichner sind jetzt „Stalinisten“. Das möchte ich nicht in meiner eigenen Partei haben, mir reicht doch Herr Eppelmann.

Welchen Begriff würden Sie statt „Stalinismus“ vorschlagen?

Heuer: Ein Wort reicht nicht. Dann könnten Sie auch „Unrechtsstaat“ und „totalitär“ akzeptieren. Wir brauchen eine differenzierte Sicht. Ich lehne auch für die alte Bundesrepublik summarische Charakterisierungen ab, zum Beispiel das Urteil, sie sei faschistisch oder faschistoid gewesen. Eins steht jedenfalls fest: Die DDR war zu großen Teilen undemokratisch. Die Einheit von Demokratie und Sozialismus hat sie nicht geschafft. Das war ihr entscheidendes Defizit

Brie: Über die notwendige begriffliche Differenzierung hinaus: Für die Zukunft der PDS wird ausschlaggebend sein, ob sie akzeptiert, daß es eine Kontinuität stalinistischer Strukturen von der Frühzeit der DDR bis zu ihrem Ende gegeben hat. Ihr in vielen Teilen antidemokratischer und – vielleicht noch entscheidender – antiemanzipatorischer Charakter, die völlige Ignoranz gegenüber Freiheits- und Bürgerrechten, dieser Wahn, Wirtschaft und Gesellschaft monistisch zu sehen – das sind Dinge, die aus der Stalinzeit kamen, die nie überwunden wurden. Wenn wir hier nicht radikale Konsequenzen ziehen, wird die Partei nicht zu jenen modernen, gesellschaftswirksamen Vorstellungen kommen, die wir brauchen.

Heuer: Ich bin fürs radikale Fragen, aber gegen Totschlagargumente. Wir müssen uns die Frage stellen, warum die Menschen in der DDR eine Reihe von Dingen gut fanden und finden. Die größere Gleichheit etwa hatte auch positive Wirkungen auf den Umgang der Menschen miteinander. Auch die Veränderung der Eigentumsverhältnise in der DDR hatte ihre guten Seiten, die wir berücksichtigen müssen, neben den bekannten negativen, etwa der mangelnden Effektivität. Was wirkt positiv fort, was darf unter keinen Umständen wiederholt werden? Diese Bilanz müssen wir fortschreiben.

Brie: Was du sagst, suggeriert zuviel Übereinstimmung. Ich nehme eure Erklärung und stelle sie in ein gesellschaftliches, politisches und Medienvorfeld, wo der PDS vorgeworfen wird, sie kleistere alles zu, sie beschönige die DDR. Wo es heftige, vielleicht übers Ziel hinausschießende Forderungen gibt, keine Nostalgie zuzulassen, eine radikale Kritik zu führen – da kommen dann eure Formulierungen. Sie können nur als Aufforderung verstanden werden, endlich Schluß zu machen. Da könnt ihr ruhig eine radikale Analyse fordern. Schließlich kommt es auf die Richtung der Analyse an.

Heuer: Kann ich nicht finden. Nostalgie ist auch so ein Kampfbegriff. Die Menschen in der DDR hatten jetzt fünf Jahre lang Zeit, zwei Gesellschaftssysteme zu vergleichen. Erst gab es einen sehr kritischen Blick auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik, dann kam die Euphorie, jetzt ist das Urteil, glaube ich, solide. Die Menschen in Ostdeutschland haben allerdings verstanden, daß der Angriff auf die DDR zum Teil auch ein Angriff auf ihre Interessen war und ist.

Brie: Du kannst doch dieses Selbstbewußtsein nicht damit bedienen, daß du die Kritik an der DDR nicht weiterführst. Ein aufklärerischer Anspruch muß die schonungslose Kritik an den Verhältnissen in der alten Bundesrepublik verbinden mit einer ebenso schonungslosen Kritik der DDR. Das schließt ein, daß man das, was jetzt an DDR-Verteidigungshaltungen aufbricht, auch kritisch sehen muß. Solche Nostalgie-Haltungen sind menschlich verständlich, aber für Politik tödlich.

Heuer: Es will, es soll und es kann auch niemand zurück in die DDR. Man wirft uns vor, wir wollten nur Ideologie produzieren, während die, die das sagen, pragmatisch agierten und sich für die Interessen der Menschen einsetzten. Ich glaube, die Gegenüberstellung von Ideologiepartei und Politikpartei ist falsch. Im Grunde geht es um Strategie. Die kann man nicht ohne Theorie machen. Man kann beides nicht trennen. Zwischen Ideologie und Theorie gilt es auch noch zu unterscheiden. In dem Maße, in dem es um Sahra Wagenknecht ging, war unser 4. Parteitag natürlich ein Ideologieparteitag. Wir sollten die Stalinismus-Diskussion führen, es war eine ideologische Diskussion, die uns vom Parteivorstand mit der Zielstellung einer Richtungsänderung aufgedrückt worden war.

Brie: Eine solche Zielstellung existierte nicht, das unterstellst du. Mit Sahra Wagenknecht hättest auch du dich auseinandersetzuen müssen, denn ich glaube nicht, daß du mit den Thesen ihres Buchs übereinstimmst.

Wir haben beides vernachlässigt, Politik und ideologischen Streit. Eine Partei hat allerdings in erster Linie Politik zu machen. Hier gibt es nichts zu beschönigen. Die PDS ist gegenwärtig an Politik gehindert, und sie hindert sich selbst daran. Sie macht sich nicht in dem Bewußtsein auf den Weg, daß es in Deutschland gegenwärtig keine gesellschaftliche Aufbruchstimmung gibt, daß vielerorts Lähmung herrscht, daß sie isoliert ist. Das ist das Dilemma. Eine linke Partei braucht Theorie und Strategie, die aber kann sie nicht als Partei entwickeln. Die PDS gefällt sich gegenwärtig, bis in die Basisorganisationen hinein, darin, ideologische Diskussionen als Ersatz für Politik zu nehmen. Sie meint sogar, das sei Politik. Wenn wir so weitermachen, können wir uns verabschieden.

Die PDS will „alles mitnehmen“, will unterschiedliche, ja gegensätzliche Interessen befriedigen. Ist permanenter Spagat möglich? Glauben sie unter diesen Bedingungen, daß die Partei neue Politikfähigkeit gewinnen kann?

Heuer: Die Partei muß unterschiedliche Strömungen aushalten. Sie ist, was ein großer Vorzug ist, dem Anspruch nach pluralistisch. Wir sollten es weiter miteinander versuchen, vernünftig und solidarisch. Ich will keine Zerreißproben. Aber keine Partei kommt ohne Prinzipien aus. Auch wir haben die unseren. Wenn wir, vielleicht als einzige Partei, gegen jeden Einsatz deutscher Truppen im Ausland eintreten, wenn wir gegen den Asylkompromiß sind, gegen Paragraph 218 – sind das bloß „Klassenkampfparolen“?

Brie: Das Hauptproblem der PDS besteht darin, daß sie keine Politik macht. Auf ideologischem Gebiet ist die Metapher vom Spagat zutreffend. Aber auf politischem Gebiet muß man sich bewegen, einfach losgehen.

Wir danken für das Gespräch

Für die taz dabei: Jens König

und Christian Semler