Kahlschlag beim Umweltrecht

Auf deutsches Drängen bereitet eine Arbeitsgruppe der Europäischen Kommission den Abbau der Umwelt- und Sozialgesetze vor  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Der Verbraucherschutz soll schuld sein, die Umweltgesetze sollen schuld sein, die Sozialgesetze sollen schuld sein, daß die europäische Wirtschaft nicht so läuft, wie sie könnte. Mit unglaublich einfältigen Thesen will eine Arbeitsgruppe der Europäischen Kommission den Wunschzettel der Industrie zur Bibel der Europäischen Union erheben lassen. Danach sollen alle Umwelt- und Sozialbestimmungen, die der Wirtschaft Kosten verursachen, ganz oder teilweise abgeschafft werden und künftige Regeln auf ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis für die Industrie überprüft werden. Beim EU-Gipfel in Cannes Ende Juni wird der sogenannte Molitor-Bericht von den 15 Staats- und Regierungschefs voraussichtlich abgesegnet und als Arbeitsauftrag an die Kommission in Brüssel weitergeleitet werden.

Der politische Druck kommt aus Deutschland. Vor einem Jahr beschlossen die Staats- und Regierungschefs auf Drängen von Bundeskanzler Kohl, eine Expertengruppe mit der Vereinfachung der EU-Gesetzgebung zu beauftragen. Unter Leitung des ehemaligen Abteilungsleiters im Bonner Wirtschaftsministerium, Bernhard Molitor, sollten 15 unabhängige Experten die EU-Richtlinien durchforsten und Wirtschaftshemmnisse ausfindig machen. Unklar blieb allerdings, von wem die von den Regierungen bestimmten, durchweg industrienahen Experten unabhängig sind.

Kommenden Donnerstag, vier Tage vor dem EU-Gipfel in Cannes, will die Gruppe ihre Empfehlungen veröffentlichen. Nach vertraulichen Entwürfen, die der taz vorliegen, laufen sie auf einen Kahlschlag der Umweltbestimmungen hinaus. Am kostenträchtigsten seien die Wasser- und Abfallvorschriften, heißt es. Grenzwerte für Giftstoffe im Wasser müßten ebenso aufgehoben werden wie die kürzlich von den Umweltministern beschlossene Einschränkung des Mülltourismus.

Vertrauen auf freiwillige Selbstverpflichtung

Als ob die Diskussion um den Wachstumsmarkt Umwelttechnologie nie stattgefunden hätte, fordert die Molitor-Gruppe die Lockerung von Emissionsgrenzwerten. Globalwerte und unverbindliche Umweltqualitätsziele seien ausreichend. Das von der EU geplante Emissionverzeichnis, das alle größeren Firmen zur jährlichen Bekanntgabe ihres Giftausstoßes verpflichten soll, dürfe keinesfalls in Kraft treten.

Auch die Umweltverträglichkeitsprüfung stört die Industrie. Sie soll deshalb bis zur Bedeutungslosigkeit vereinfacht werden. Die Experten fordern mehr Verantwortung für die Industrie, weniger staatliche Vorschriften und mehr Selbstverpflichtungen der Branchen. Die Kommission müsse zudem stärker gegen nationale Regelungen vorgehen. Das dänische Pfandflaschensystem oder der Grüne Punkt in Deutschland seien in Wahrheit Handelshemmnisse, die nicht geduldet werden dürften.

In der EU-Sozialgesetzgebung, seit dem Ausscheren von Großbritannien ohnehin in Agonie, schlagen die Experten ein Moratorium vor: keine neuen Richtlinien, solange alte noch nicht vollständig umgesetzt sind.

Umweltverbände und Gewerkschaften laufen bereits Sturm. „Die Molitor-Gruppe scheint auf eine totale Deregulierung zu zielen“, schimpft Jean Lapeyre vom Europäischen Gewerkschaftsverband ETUC. „Sie geht weit über ihren Auftrag, zu vereinfachen, hinaus.“ Das Europäische Parlament in Straßburg hat auf Druck der Grünen mit 400 gegen 5 Stimmen beschlossen, daß das Mandat für die Molitor-Gruppe nicht verlängert werden dürfe. Selbst innerhalb der Molitor-Gruppe geht das Papier einigen zu weit. Die Vertreter aus Schweden, Dänemark und Italien haben angekündigt, ihre Unterschrift zu verweigern. Möglicherweise wird der Bericht kommende Woche in einer kosmetisch abgemilderten Fassung veröffentlicht, die harte Version wird dann nur unterm Tisch weitergereicht.

Bis zum Gipfel in Cannes ist das Papier nur eine Empfehlung. Erst wenn die Staats- und Regierungschefs es annehmen, wird es zum Arbeitsauftrag für die Kommission. Die Gesetzesänderungen müssen dann später noch durch den Ministerrat und durchs Europaparlament, wo sie Federn lassen werden. Aber es geht um die Richtung. Der Molitor-Bericht steht in einer Reihe ähnlicher Studien, die sich durch grobschlächtiges Mißtrauen gegen Umwelt- und Sozialgesetze auszeichnen.

Daß die Spuren meist ins Bonner Wirtschaftsministerium führen, ist kein Zufall. Die Bundesregierung möchte auf dem Umweg über Europa eine Lockerung der Umweltgesetze erreichen, an die sie sich zu Hause wegen einer in Umweltfragen sensiblen Öffentlichkeit nicht herantraut. So hat das Wirtschaftsministerium zeitgleich mit dem Molitor-Bericht eine deutsch-britische Industriellengruppe beauftragt, eigene Deregulierungsvorschläge zu machen. Einige ihrer Empfehlungen gehen über die der Molitor-Gruppe hinaus, andere finden sich fast deckungsgleich in beiden Berichten. Worum es den Auftraggebern geht, steht im Inhaltsverzeichnis des deutsch-britischen Papiers: „Der Standort Europa ist gefährdet.“ Wer sich an die Diskussion vom letzten Jahr erinnert, kennt die Stoßrichtung: Damals wurde argumentiert, Umwelt- und Sozialgesetze müßten europaweit beschlossen werden, nationale Bestimmungen führten zu Wettbewerbsnachteilen der deutschen Wirtschaft. Jetzt soll auf europäischer Ebene aufgeräumt werden. Eine Stimmung wird vorbereitet, in der es unmöglich wird, neue Umwelt- und Sozialbestimmungen durchzusetzen.