■ Bildet reisen?
: Zum Aussteigen fehlt einfach die Zeit

Von Goethe soll der Satz stammen, daß der Mensch seine wahre Bildung nur auf Reisen erwirbt. Wenn man Bildung als weltoffene Einstellung definiert und als jederzeitige Bereitschaft, Vorurteile zu revidieren, fürchte ich, daß von dem Goethewort nicht allzuviel bleibt. Im Gegenteil, Tourismus dient vor allem der Zementierung von Vorurteilen. Goethe selbst ist ein Beispiel dafür. Sieht man von einer Episode ab – der Korrektur des Vorurteils, Neapolitaner seien faul –, so hat er bei seiner berühmten, immerhin mehr als eineinhalb Jahre dauernden Reise durch Italien vor allem das bemerkt, was er sowieso schon kannte. Durch Oberitalien ist er nur gerast, ganz Süditalien blieb ihm verschlossen. Auf Sizilien hat er die Tempel, aber sonst nichts wahrgenommen. Gleichwohl prägt das Buch noch heute das deutsche Italien-Bild, einschließlich der Goetheschen Schulmeisterei, mit der er Sizilianern beizubringen versucht hat, wie sie ihre dreckigen Städte sauberkriegen könnten.

Wie wenig sich Tourismus dazu eignet, Vorurteile zu überwinden, zeigt sich schon allein an den Pfaden, die Reiseveranstalter und Reiseführer anbieten: Die Hagia Sophia in Istanbul und die Moschee von Córdoba muß man gesehen haben, den Petersdom in Rom und das Heiligtum von Stonehenge. Oft kommt die Reisegruppe gar nicht einmal mehr zum Aussteigen: Ein deutscher Veranstalter etwa schickte eine Reisegruppe von Rom nach Neapel und veranschlagte für Hin- und Rückfahrt einschließlich Besichtigung gerade mal fünf Stunden.

Neben den Kulturdenkmälern muß man natürlich auch noch ein paar Vorstädte und Elendsquartiere angucken, damit sich das Mitleidsgefühl einstellen kann. Dazu gehört auch die „Begegnung“ mit Einheimischen, meist mit dem Kellner vom Lieblingslokal oder dem Gärtner, wenn man einen Bungalow gemietet hat. Allzuviel soll's aber auch nicht sein, schließlich gehört zum runden Bild vom Urlaub auch noch Ruhe, und da stören lärmende Italiener oder Griechen eher.

Wie auch immer: Nach acht bis vierzehn Tagen Urlaub in der Fremde fühlt sich der Tourist als Experte – bereit, all das, was er in den zwei Wochen zufällig gesehen hat, als „das“ Griechenland, „das“ Italien, „das“ Spanien zu deklarieren. Widerspruch ausgeschlossen, denn „ich war doch selbst dort“. Mittlerweile gibt es sogar schon welche, die sich zwei Stunden in ein Sperrgebiet Kroatiens verirrt haben und die seither tiefgründelnde Experten des Kriegsgeschehens auf dem Balkan sind.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Es sei jedem gegönnt, die Welt kennenzulernen. Fabrizio De Maurizio

Der Autor hat über zehn Jahre in Italien Kulturaustausch organisiert.