Christomania in, um und beim Reichstag

Berlin spielt Versteck und alle müssen suchen / Zum Ereignis erschienen jede Menge Bücher zum Verhältnis von Kunst und Politik / Das angeblich politischste will Denkanstöße zu Christos Verhüllungsaktion liefern und scheitert  ■ Von Michael Marek

In einem stillgelegten Bergwerksschacht bei Freiburg wird in 1.000 Meter Tiefe das gesamte kulturelle und politische Vermächtnis der Bundesrepublik verwahrt. 100 Millionen Mikrofilmphotographien, auf denen vom Einigungsvertrag bis zum Protokoll der Wannsee-Konferenz alle national bedeutsamen Dokumente gespeichert sind. Gut möglich, daß kommende Generationen hier auch mal Bilder des „Wrapped Reichstag“ finden werden. Was aber werden sie erkennen: ein Kunstwerk voll Anmut und Schönheit, eine Fußnote zur deutschen Geschichte? Viele Bücher geben jetzt Interpretationshilfen, die ausführlichsten sind im eben erschienenen Sammelband „Kunst, Symbolik und Politik“ zu finden.

Hier versuchen 40 AutorInnen alle Facetten der Christo- und Jeanne-Claude-Aktion zu beleuchten, darunter die Entstehungs- und Verlaufsgeschichte des Verhüllungsprojektes, also viel zum Symbolgehalt politischer Architektur. Ausführlich wird die entscheidende Bundestagsdebatte analysiert und kommentiert. Irritierend dabei der angestrengte, sprachliche Ernst aller AutorInnen. Die sinnlich-ästhetische Dimension der Verhüllung geht ihnen ebenso verloren wie Christos ironisches Spiel mit einer staatlichen Repräsentationsarchitektur und den Medien.

Einen Text, der sich mit der Rolle der Presse für Christos und Jeanne-Claudes Kunstform beschäftigt, sucht man vergeblich. Dabei ist ihre zeitlich begrenzte Kunst nichts ohne die Öffentlichkeit. Für das Gelingen des „Wrapped Reichstag“ brauchen und wollen sie die aktive Teilnahme des Publikums und des Fernsehens. Im Sammelband bleibt unbeleuchtet, was dies für die Kunst bedeutet.

Am 25. Februar 1994 votierten die Bundestagsabgeordneten in namentlicher Abstimmung mit deutlicher Mehrheit für das Reichstagsprojekt – ein Vorhaben, das Politik und Kunst miteinander konfrontieren will. In einer Zusammenfassung dieser Debatte systematisiert Stefan Engelniederhammer noch einmal die Pro- und Kontra-Argumente. Gerade die letzteren waren zahlreich: Die Würde des Parlamentes werde verletzt, das viele Geld wäre sinnvoller investiert in Krankenhäuser oder andere soziale Einrichtungen. Die Christo-Gegner traten vor allem mit ihrem staatstragenden Hauptargument gegen die Verhüllung an: Ein Symbol deutscher Geschichte nähme Schaden, so Wolfgang Schäuble. Doch künstlerische Objekte haben ihre eigenen Maßstäbe. Darauf jedenfalls beharrt Christo, der die Unterscheidung zwischen Gut und Böse in der Kunst nicht akzeptiert. Engelniederhammers Fazit: „Reichstag und Verhüllung dienten als Projektionsflächen der politischen Meinungen.“

Bernd Guggenberger kritisiert zu Recht, daß die Frage nach der Schönheit des Projektes in dieser Debatte peinlich ausgeklammert blieb. Der Politologe interpretiert dies als eine „allgemeine Ökonomisierung unserer Wahrnehmung“, die sich an der strategischen Dominanz der wirtschaftlichen Umfeldargumente ablesen läßt („die Verhüllung als Tourismus-Werbe-Effekt für Berlin“). Auffällig auch, daß Gegner wie Befürworter in eigentümlicher Weise einen gemeinsamen Diskurs führen – einen Diskurs, der seine Kraft aus einer polit-pädagogischen Scheinrationalisierung beziehe. Während Rita Süssmuth glaubt, daß die Reichstagsverhüllung sichtbar macht, was der Wahrnehmung bisher verschlossen blieb (nämlich die ambivalente Geschichte), meint Wolfgang Schäuble wiederum, daß viele Menschen genau dieses nicht verstehen. Beide Positionen enthalten aber den Gedanken vom „dummen Volk“, das entweder belehrt werden muß oder sich nicht belehren lasse.

Michael S. Cullens Projekt- Chronik ist auch nicht gerade neu, vermutlich aber für all jene informativ, an denen die Christo-Welle der letzten Wochen spurlos vorbeigegangen ist. Danach haben die Christos an ihrem zeitlich begrenzten Kunstwerk länger gearbeitet als die Volksvertreter im Reichstag jemals regiert.

Bis zum 7. Juli wird das Unternehmen etwa sieben Millionen Dollar verschlungen haben, Kosten, für die die Künstler alleine aufkommen. Sie haben damit ein klassisches Verhältnis auf den Kopf gestellt, schreibt der Politologe Klaus von Beyme. Der Mäzen sei zum passiven Objekt von Pressure-group-Politik und Medienkampagne geworden.

Bei aller Ausführlichkeit: Wirklich Neues findet sich in dem Band nur selten. Geradezu schlampig ist die Fotoauswahl. Kommentarlos wird etwa ein Bild vom Reichstagsbrand 1933 präsentiert – ohne Hinweis auf die Retuschen, die den Brand mächtiger aussehen lassen, als er in Wirklichkeit war. Das ist um so ärgerlicher, da mindestens zehn AutorInnen darauf hinweisen, daß die Aufnahme von der Hissung der roten Fahne am 2. Mai 1945 auf dem Dach des Reichstages nachgestellt wurde.

Ungenauigkeiten gibt es in dem Sammelband zuhauf. Für das Abstimmungsergebnis im Bundestag gibt es sechs verschiedene Zahlenangaben???? Und in jedem Text wird der Satz, „wie an keinem anderen Ort Deutschlands spiegeln sich im Berliner Reichstagsgebäude die Höhepunkte und Katastrophen der deutschen Geschichte wider“ in Variationen um die Ohren gehauen.

Passend dazu auch der Beitrag des Berliner Senators für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Volker Hassemer (CDU). Er gibt vor, sich mit dem Umbau Berlins zur Bundeshauptstadt zu beschäftigen, schreibt aber tatsächlich einen Mercedes-Benz-Werbetext zur Gestaltung des Potsdamer Platzes.

Ob es Christo tatsächlich gelingt, die massige Herrschaftsarchitektur des Reichstages in ein Sinnbild der Anmut und Freude zu verwandeln, das wird sich in dieser Woche herausstellen. Aber ob er sich eines Tages in 1.000 Meter Tiefe wiederfindet, verwaltet von den Mitarbeitern des unterirdischen Archivwesens am Schauinsland, das wird sich erst noch erweisen müssen. Eines jedoch hat Christo schon jetzt erreicht: Zum ersten Mal debattierten die Abgeordneten des Bundestages über Kunst. Insofern sind Gegner wie Befürworter des Projektes gleichermaßen zu dem Bestandteil des Kunstwerkes geworden.

„Kunst, Symbolik und Politik. Die Reichstagsverhüllung als Denkanstoß“, Hrsg. Ingo Braun, Kai-Uwe Hellmann, Ansgar Klein, Christiane Schröder, Leske + Budrich, Opladen 1995; 387 Seiten, 29,80 DM