Das Wunder ist eine Fata Morgana

Von den versprochenen 3.200 Arbeitsplätzen entstanden auf dem ehemaligen WAA-Gelände in Wackersdorf bislang nur 900. Denen, die sie ergattern konnten, geht es gut, der Region weniger  ■ Von Bernd Siegler

Gelber Ginster. Dazwischen Lupinen und frischgepflanzte Laubbäume, ab und zu eine Fertigungshalle oder ein Parkplatz. Wo einst ein 28 Millionen Mark teurer Spezialzaun die größte Baustelle der Republik schützen mußte, umschließt jetzt grüner Maschendraht das 130 Hektar große Areal. Die Stahlbetonplatten für den Sicherheitsgraben wurden längst zu Granulat zerkleinert.

Und wo vor neun Jahren am „Chaoteneck“ DemonstrantInnen gegen den Bau der Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) Sturm liefen, prangt heute das Schild „Industriegebiet Westlicher Taxöldener Forst“. Ganz oben die Firma BMW. Das „Wunder von Wackersdorf“, wie es Bayerns Ministerpräsident Max Streibl nach dem Aus für die WAA versprochen hatte, ist es wahr geworden?

„Mit Wundern kann ich nichts anfangen. Ich bin Realist.“ Wackersdorfs Bürgermeister Alfred Jäger, 49 Jahre alt und parteilos, reagiert allergisch. Zu oft wird der Mann mit dem akkuraten Scheitel auf das „Wunder“ angesprochen. Zu oft bekommt Jäger es zu hören von CSU-Politikern und -Ministern, die sich in Wackersdorf alljährlich ein Stelldichein geben, um ihre „vorbildliche Industrieansiedlungspolitik“ zu loben.

„Wunder gibt es nicht in der Ökonomie“, glaubt der Bürgermeister. 3.200 Arbeitsplätze seien der 4.200 Einwohner zählenden Gemeinde nach dem Aus für die WAA am 31. Mai 1989 in Aussicht gestellt worden. Um Ersatz für die verlorengegangenen Arbeitsplätze der WAA zu schaffen, hatten die Energieversorgungsunternehmen, der Freistaat und der Bund insgesamt 1,5 Milliarden Mark Fördergelder zur Verfügung gestellt. Dann aber kam die Grenzöffnung zu Tschechien, die Rezession und geänderte Firmenstrategien. 90 Prozent der Fläche liegen brach. Auf die haben sich wenige Firmen eine Option gesichert, ohne Zusicherungen und zeitliche Vorgaben. Nur auf einem Zehntel der Fläche wird produziert, deshalb sind nur 900 neue Arbeitsplätze auf dem ehemaligen WAA-Gelände entstanden.

Für die Gemeinde Wackersdorf bedeutet das nahezu ein Nullsummenspiel. „200.000 Mark nehmen wir an Gewerbesteuer ein, 185.000 zahlen wir jährlich für die Unterhaltung des Industriegeländes“, rechnet Jäger und legt seine Stirn in Falten. „Das Aufstellen des Haushaltsplans bereitet mir zwei bis drei schlaflose Nächte.“ Die Pro-Kopf-Verschuldung der Gemeinde stieg von 460 Mark im Jahr 1994 auf 813 Mark in diesem Jahr. Damit liegt Wackersdorf zwar immer noch unter dem Durchschnitt, aber Jäger ist besorgt.

Wackersdorf war bisher keine arme Gemeinde

Als „Eingeborener“ kennt er ganz andere Zeiten. In den siebziger Jahren war Wackersdorf durch den Braunkohleabbau die reichste Gemeinde Bayerns. Nachdem 1982 die Bayerische Braunkohleindustrie ihre Gruben schloß, standen 1.400 Bergmänner auf der Straße. Zu Zeiten des WAA-Baus ging es der Gemeinde dann wieder glänzend. Die WAA-Betreiberfirma, die Deutsche Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK), zeigte sich spendabel. Hier ein zinsloses Darlehen, im nächsten Ort ein neues Feuerwehrgerätehaus oder ein Grundstückskauf zu überhöhten Preisen. Wackersdorf bekam eine Turnhalle und von der DWK jährlich eine Million Mark als „Gewerbesteuervorauszahlung“. „Das hat noch niemand zurückgefordert“, meint Jäger erleichtert. „Wir könnten das nicht zahlen.“

Nach dem WAA-Ende durfte die DWK das „besterschlossene Industriegebiet Europas“ (Bayerns damaliger Wirtschaftsminister Lang) vermakeln. Doch bei den Verhandlungen blieb Wackersdorf außen vor. „Wir kennen die Verträge nicht“, beklagt Jäger, von Beruf Nachrichtentechniker. Er weiß aber, daß das Gelände zu Spottpreisen verscherbelt worden ist. Ganze drei Mark hat die Firma BMW für den Quadratmeter erschlossenes Industriegelände bezahlt – und die Autobauer griffen zu, kosten doch vergleichbare Flächen im Raum Schwandorf das Zwanzigfache. Knapp 50 Hektar gehören heute den Münchner Autofabrikanten, die 1.600 Arbeitsplätze versprochen, aber bislang nur etwa 700 realisiert haben.

Am Stammtisch im Landgasthof Bösl am Marktplatz von Wackersdorf ist man sauer auf den Autokonzern. Der Wirt will selbst nichts sagen, schließlich speisen die Herren der Automobilfirma bei ihm zu Mittag. Die Stammgäste nehmen aber nach ein paar Weizenbieren kein Blatt mehr vor den Mund. Ein 44jähriger Elektriker, der noch bei der Braunkohle gelernt hatte und seinen Namen nicht nennen will, fordert, daß man „den Firmen doch ein Ultimatum setzen“ müßte. „Wenn die bis dahin nicht gebaut haben, muß ihnen das Grundstück wieder abgenommen werden.“ Demonstrativ haut er auf den Tisch und ist sich der Zustimmung seiner Nachbarn sicher: „Das ist doch eine Schweinerei gegenüber der Bevölkerung.“

Wie jeder zehnte hier im Landkreis ist auch er arbeitslos. Seit über einem Jahr schon und ohne Aussicht auf eine Stelle. Er flüchtet sich in Alkohol und – wie die mehrfach gebrochene Nase beweist – in so manche Schlägerei. „BMW gehört auf die Finger geklopft und dem Freistaat auch.“ In Wackersdorf seien „alle von BMW verarscht“ worden. „Dort arbeiten doch lauter Spezialisten, die brauchen keine normalen Arbeiter, höchstens mal jemanden zum Hofkehren.“

Horst Spiegler ist einer dieser „Spezialisten“. In einer Halle auf dem ehemaligen WAA-Gelände fertigt BMW die Karosserien für die noblen Cabriolets der 3er- Reihe. „Ein solides, stabiles Fahrzeug“, lobt Spiegler das 50.000 Mark teure Endprodukt.

Firmen sichern sich Gelände – und tun nichts

Der 32jährige ist Meister bei BMW. Er kontrolliert die Fertigung von der „Hochzeit“, wie im BMW-Jargon das Verschweißen von Vorder- und Hinterbau auf den Mittelteil genannt wird, bis hin zum „Finish“, dem Feinschliff für die Karosserie. 160 Cabrio- Gehäuse verlassen pro Tag das Wackersdorfer Werk. Sie werden per LKW nach Regensburg gekarrt, dort lackiert und fertig montiert. Spiegler ist zufrieden. Ein Cabrio fährt er zwar nicht – „Der Kindersitz paßt hinten schlecht hinein“ –, aber BMW zahlt gut und bietet sichere Arbeitsplätze. Für die Oberpfalz keine Selbstverständlichkeit. „BMW ist ein Segen für die Region“, meint der Meister.

Das meint Alfred Jäger seit November letzten Jahres nicht mehr. Da hatte der BMW-Vorstand den Bau weiterer Fertigungsstätten in Deutschland ausgeschlossen. Die Bayern zog es nach Kalifornien. „Dabei hatten wir fest damit gerechnet, Automobilstandort zu werden“, sagt Jäger. Die Arbeitsplätze wären der ganzen Region zugute gekommen, obwohl Wackersdorf allein die Gewerbesteuer einstreicht.

Mitte Mai hat BMW das ehemalige Brennelementeeingangslager gekauft und verspricht jetzt die Errichtung eines „Industrieparks“. Man wolle Zulieferfirmen nach Wackersdorf holen. „1.600 Arbeitsplätze bleiben fixiert“, verspricht Firmensprecher Rudolf Ebneth. Konkrete Vorstellung von der Gestalt des Industrieparks habe man zwar noch keine, aber in den nächsten Jahren werde „sich etwas tun“.

„Was ist das, ein Industriepark“, wirft Jäger ein. Der Bürgermeister setzt seine Hoffnungen jetzt darauf, daß die mit Wasser aufgefüllten Kohlegruben sich als „Oberpfälzer Seenplatte“ profitabel erweisen. Zumal sich andere Firmen ähnlich wie BMW verhalten haben. Sennebogen wollte in Wackersdorf die „besten Mobilbagger der Welt“ bauen mit 500 Beschäftigten. Nur 90 sind es derzeit. Auch der Küchengerätehersteller Wilden wollte groß hinaus. Derzeit arbeiten dort auch nur knapp 80 Beschäftigte. „Nichts als heiße Luft“, kommentiert die grüne Landtagsabgeordnete Irene Maria Sturm aus Schwandorf solche Versprechungen. „Das Wunder erweist sich als Fata Morgana.“

Den größten Flop landete Siemens. Nach dem Aus für die WAA hatte sich Ministerpräsident Streibl gebrüstet, er habe als erste „Ausgleichsmaßnahme“ für die ökonomisch schwache Region der Energiewirtschaft den Bau der Solarzellenfabrik abgerungen. Die Siemens-Solar-GmbH wollte ursprünglich 1991 in Wackersdorf mit dem Bau der „größten Solarzellenfabrik der Welt“ beginnen und Ende 1993 mit 400 Beschäftigten die Produktion aufnehmen. Bislang geschah nichts. Die eigens dafür angelegte Straße endet abrupt im Wald. Auf dem Verkehrsschild prangt die Parole „Siemens – Nein danke!“.

„Wir können die Unternehmen nicht zwingen“, hatte Bayerns Wirtschaftsminister Otto Wiesheu bei seinem letzten Besuch in Wackersdorf festgestellt. Aber man wolle „sie nicht aus der Verantwortung entlassen“. Bürgermeister Jäger nutzen solche Worte wenig. „Auf uns lasten die Folgekosten der Investitionen, aber die Firmen lassen uns über ihre Pläne im unklaren.“ Er versteht nicht, warum andere Gemeinden begehrlich auf Wackersdorf blicken. „Auf Gewinn ist jeder neidisch, auf Belastungen niemand. Das ist unfair.“

Er meint damit die umliegenden Städte und Gemeinden, allen voran die Stadt Schwandorf. „Wir haben nichts gegen die Wackersdorfer“, betont Lothar Mulzer, Pressesprecher der Stadt, „aber ein Teil der Gewerbesteuer müßte schon nach Schwandorf fließen.“ Ein frommer Wunsch, denn rechtlich haben die Schwandorfer keine Chance.

Auch für den SPD-Landrat Hans Schuierer, die Symbolfigur des WAA-Widerstands, hat die Gemeinde Wackersdorf keinen Grund zum Jammern. Welche Gemeinde mit 4.000 Einwohnern verfüge denn schon über 2.500 Arbeitsplätze? Er hält die Entwicklung in Wackersdorf für „landesplanerisch fragwürdig“. Schwandorf sei das Mittelzentrum, dort müßte Ansiedlungspolitik betrieben werden und nicht in Wackersdorf. Schuierer ist sicher, daß die Zulieferer, die BMW jetzt verspricht, „sowieso und von ganz alleine in die Region gekommen“ wären. Heftig kritisiert er die „Hans-im-Glück-Mentalität“ der Staatsregierung: „Sie tauschen einen Goldklumpen gegen eine Gans und wollen uns das dann noch als Erfolg verkaufen.“

Für den SPD-Landrat, der 1990 mit 72 Prozent der Stimmen in der tiefschwarzen Oberpfalz im Amt bestätigt wurde, kann von einem „Wunder“ in Wackersdorf „keine Rede“ sein. Aus den Auseinandersetzungen um die WAA hat er gelernt, „daß man der bayerischen Staatsregierung nicht alles glauben darf“. Das gelte vor allem für „das Gerede über Wunder“.

Die Nachbarorte sind schlechter dran

Auch in der Bäckerei Weingärtner in Wackersdorf hält man nichts von Versprechungen. „Wir glauben nichts mehr“, betont die Bäckerin. „Was die uns schon alles versprochen haben, auch jetzt mit den Arbeitsplätzen, da kommen doch die meisten von auswärts.“

Bei ihr gibt es nicht nur Semmeln, Schnecken und Torten, sondern auch winzige Fläschchen, gefüllt mit Himbeergeist und Spuren von 24karätigem Gold. Für schlappe 8,95 Mark als Ballaststoff für gute Verdauung. Doch noch ein Wunder in Wackersdorf: Die „Wackersdorfer Goldtröpfchen“.