My Home is my Kulisse

In Spike Lees „Crooklyn“ passen die gesamten Siebziger in eine Kinderfaust  ■ Von Mariam Niroumand

Mittelalterliches Morality-Play oder Bestiarium – auf Spike Lees Straßen war es schon immer hypereng. Hier nun ist das Bild auch noch cinemascopeförmig gestaucht und viele bunte Menschen schauen einander über die Schulter. „Crooklyn“ ist aber noch viel mehr „Homemovie“ als der comic-hafte „Do the Right Thing“ und vor allem der fast vollends im abstrakten Raum spielende „She's Gotta Have It“. Ähnlich wie Nanni Moretti oder Eric Rohmer auf ihre kleine Weise hat auch Spike Lee hier die eigene Umgebung zur Kulisse gemacht, in der die Dinge ihre Echtzeit brauchen. Es sind die siebziger Jahre mit Partridge-Family (David Cassidy!), Stickballspielen, Afro- Sheen fürs Haar, Curtis Mayfield und den Jackson-Five.

Oh Child: die Geschichte wird erzählt aus der Perspektive von Troy, einer sympathisch-frühvermuffelten Zwölfjährigen, die in die Initiation gedrängt wird, mit der sie es eigentlich noch gar nicht so eilig hatte. Zu erzählen – und das ist das technisch Neue an diesem Film – gibt es nicht so rasend viel; es handelt sich um eine Art „Geschichte des schwarzen Privatlebens“, was wichtig ist, weil es einem sonst in der schwarzen Spielfilmgeschichte so scheinen könnte, als hätten African Americans nur eine quasi biologische Abstammungslehre oder Chroniken der großen Kämpfe (in „Roots“ oder „Malcolm X“ kam beides bedenklich zusammen) zu präsentieren.

Die Modelle von dem, was Lee hier vorführt, stammen entsprechend aus dem Fernsehen: „The Cosby Show“ präsentierte eine lustige, intelligente New Yorker Familie, deren Oberhaupt, Bill Cosby, von Beruf Geburtshelfer ist. Daß es mit der Geburt der schwarzen Nation aber einen anderen Weg hätte nehmen müssen, will Lee mit „Crooklyn“ auch denen beweisen, die gehofft hatten, „Malcolm X“ und die Autarkie der Black Muslims seien sein letztes Wort zum Thema gewesen.

Troy ( nicht zufällig auch der englische Name für Troja, eine belagerte Stadt) hat einen dysfunktional-sympathischen Vater, der gerne Eiskreme für alle kauft, die er nicht bezahlen kann. Mutter mit ihre Hände muß alles ausbaden, sechs Kinder, einen gestrandeten Musiker, einen offenbar eher mittelprächtigen Job als Lehrerin: Alfre Woodard, hierzulande vor allem bekannt aus „Passion Fish“, präsentiert sich als Produkt der Bildungsoffensive im Rahmen der Affirmative Action, der die Affirmation allerdings unterwegs ein wenig verlorengegangen ist. Sie trägt zwar lustige afrodisierende Folkloretücher, aber zu laut darf es beim Frühstück nicht zugehen. Im Gegensatz zu den weiblichen Superheldinnen der Ghettofilme, die stets Stammesweisheit aus Tausenden von Jahren mit wespentaillierter Sexiness verbinden, ist sie tendenziell angestrengt, wenig kumpelhaft und definitiv unsexy. Sie managt trotzdem alles.

Und die Nachbarschaft? Hier betätigt sich Lee wieder als der Comicmaestro mit der flinken Hand. Schnell hingeworfen ein weißer schwuler Nachbar mit Perücke, dessen fünf Hunde vor sich hinstinken und dem die Kinder selbstverständlich Abfall in den Vorgarten schütten, Lee selbst mit Kumpel, als zwei Hustler, die mitunter auch schon mal kopfüber im Bild sind, und RuPaul, die schönste Transe südlich von Michael Musto, tanzt im Delikatessen an der Ecke einen Cha-Cha-Cha oder so was für den kleinen dicken Latino-Verkäufer. Die Szenerie hätte das Zeug zur Sesamstraße, und das muß auch, verdammt noch mal, erlaubt sein; schließlich hat Lee recht, wenn er sich beschwert: „Ich mußte mir nie Gedanken darüber machen, ob ich auf dem Schulweg oder vor meiner Haustür erschossen werde. Das Schlimmste was einem damals passieren konnte war, daß jemand dir das Pausenbrot klaute oder man sich eine dicke Lippe einfing. Man wurde nicht von Kugeln durchsiebt.“

So weit, so fern. „Crooklyn“ ist, etwas schwerfällig, in drei fernseh- episodenhafte Teile zerfallen: Exposition wie in der Sesamstraße, Expedition in den Süden, zu Tante Song nach Virginia, wo es weiße Rüschenkleidchen, gepflegte Rasen, Fernsehprediger und Gospel gibt („Roots!“), und schließlich die Übergabe der Staffel von der kranken Mutter an die nächste Generation. Nach Mutters Tod ist Troy plötzlich gänzlich in die Erwachsenenwelt gestoßen, eine unfreiwillige Alice im Wunderland, immer ein bißchen zu klein, aber sie wird's schon schaffen.

Die Idee zu diesem Familienfilm stammte von Lees Geschwistern Joie und Cinqué Lee, aus deren Drehbuchfirma „Child Hoods Production“ das Script kommt. Ist da irgendwas nicht in Ordnung dran, die eigene Saga ins Kino zu katapultieren? Natürlich ist „Crooklyn“ von einem Hauch ethnischer Säuberung umweht; eine auf Fernsehformat geschrumpfte Perspektive der Nachbarschaft, die nicht unfroh konstatiert, daß damals noch weniger Koreaner oder Italiener die eigenen Kreise störten. Aber ohne Fotoalbum keine Vergangenheit, und solange die Partridge-Family noch dabei ist, kann von Stammesmythologie à la „Roots“ nicht die Rede sein.

„Crooklyn“, Regie: Spike Lee. Mit: Alfre Woodard, Zelda Harris, Delroy Lindo, USA 1994, 132 Min.