Internet-Freiheit, ade!

■ Geht es nach dem US-Senat, müssen Anbieter von Foren und On-line-Diensten künftig Verantwortung für die Inhalte tragen

Wenn ein Gesetz, das der US- Senat letzte Woche verabschiedet hat, auch das Repräsentantenhaus passiert, dann hat das Internet seine schönste Zeit, die der (fast) grenzenlosen Freiheit, hinter sich. Im Namen der Jugend müssen dann die Anbieter im Cyberspace, wo bisher im Prinzip alles geschrieben, gezeichnet, aufgenommen und grenzenlos verteilt beziehungsweise abgerufen werden konnte, ihren Servicebereich kontrollieren und zensieren. Vor allem wenn sein Inhalt „filthy“ – nach Wörterbuch „obszön, liederlich, lüstern, unflätig, unzüchtig“ – ist.

Aber nicht nur. Was von den Demokraten und Republikanern beinahe einmütig als Maßnahme gegen frei zugängliche Internet- Pornographie verabschiedet wurde, dürfte in Verbindung mit einem Gerichtsurteil eine ganze Industrie knebeln. Da ist zum Beispiel die New Yorker Firma Ampersand, Internetableger der Fachzeitschrift Editor & Publisher, die beabsichtigt, ihr Netzwerk für Medieninformationen um Diskussionsforen zu erweitern, zum Beispiel über Redefreiheit, Medienethik oder Marketing. Für den Geschäftsführer Martin Radelfinger ist jetzt, nach der Abstimmung im Senat, ungewiß, „ob wir das wagen können“.

Wenn Ampersand nämlich dem Willen dieses „Exon-Gesetzes“ – benannt nach dem demokratischen Senator Exon aus Nebraska – folgt und obszöne Äußerungen nicht veröffentlicht, dann muß die Firma das Forum redaktionell bearbeiten – und damit übernimmt sie selbst die Verantwortung für den gesamten Inhalt. Inklusive für mögliche Verleumdungen oder fahrlässige Fehler in anderen Beiträgen.

Bisher funktionieren die Foren wie ein großer runder Tisch, an dem sich jeder, egal ob Privatperson oder Vertreter von Firmen, Redaktionen, Werbeagenturen, Interessenverbänden, beteiligen kann. On-line-Dienste veröffentlichen bislang unkontrolliert jeden Beitrag und sichern dem Internet damit seinen legendären demokratischen Ruf: ungehemmte freie Kommunikation, weltweit, grenzenlos, über ein frei zugängliches, erschwingliches, inzwischen leicht zu bedienendes Medium – den PC mit Telefonanschluß.

Die Anbieter wie Ampersand oder America On Line (AOL) übernahmen, genauso wie Telefongesellschaften, lediglich die Rolle eines „Common Carriers“ und waren als bloße Betreiber eines Mediums nicht für den Inhalt der von ihr übertragenen Mitteilungen verantwortlich.

Auf den meisten Foren spielt sich auch nichts Besonderes ab. Sie haben die relativ zufällige Zusammensetzung einer CB-Funkergemeinde und in der Regel ungefähr deren Niveau. Doch dann machte ein Rechtsstreit um Millionen das harmlose Chaos zum Politikum. In der Gruppe „Money Talk“ des nach eigenen Angaben familienorientierten Anbieters Prodigy („Wunder“) hatte einer der Teilnehmer eine Investment-Bank im Staat New York des Gesetzbruches beschuldigt. Die Bank hatte daraufhin gegen Prodigy wegen Verleumdung auf 100 Millionen Dollar Schadensersatz geklagt; schon im letzten November gab Prodigy klein bei und begann „Money Talk“ zu überwachen und, falls nötig, zu zensieren.

Auf AOL kappte ein Programm oder der Moderator der Diskussionsgruppe die Telefonverbindung, wenn man seinen Beitrag mit „F...“ oder anderen Unanständigkeiten anreicherte. Plötzlich war man draußen und mußte sich neu einloggen. Prodigy ging jedoch einen Schritt weiter: Es wählte im vorhinein aus. Und damit unterliegt es jetzt, so der Spruch eines Gerichts des Staates New York, denselben Haftungsbestimmungen wie jede Redaktion.

Für Martin Radelfinger von Ampersand ist „der On-line-Anbieter also entweder wegen der Obszönität der Texte dran, oder der Dienst haftet für den Inhalt der Nachricht, und jeder Verrückte, der sich verleumdet fühlt, kann eine millionenschwere Klage starten“. Den Inhalt der Beiträge in einem Forum auf seine Stichhaltigkeit hin zu überprüfen, liege völlig außerhalb der Möglichkeiten der Dienste. AOL zum Beispiel müßte dafür 6.000 eigene Foren und 9.000 weitere ständig sichten.

Nach Ansicht von Bürgerrechtsvertretern greift das Exon- Gesetz sogar in Rechte ein, die durch das Briefgeheimnis abgesichert sind: Auch e-mail ist nämlich im Prinzip von den Säuberungsmaßnahmen betroffen. Außerdem vernachlässigt es die Besonderheiten des Internets. Denn selbst für weniger versierte Surfer dürfte es ein leichtes sein, das Gesetz zu umgehen: Das Gesetz, ursprünglich als Waffe gegen Belästigung durch Telekommunikation gedacht, hat eine geographisch begrenzte Geltung: Amerikaner brauchen sich nur eine Internet-Adresse außerhalb der USA zu suchen, und schon können sie die Foren ungestraft mit obszönem Material vollstopfen.

Auch traditionelle Begriffe wie „Absender“ und „Empfänger“ stimmen nicht mehr. Denn wer ist der Absender von Hardcorepornos, wer der Empfänger, wenn man zu Hause sitzt und in eine „Web Site“, eine Art elektronisches Ladenlokal, eincheckt, um Bilder und Texte auf den eigenen Rechner zu laden? Stefan Matzig, New York

Siehe zum Thema auch: Guerilleros im Dschungel des Internet – Der Kampf um die Freiheit in den Informationsnetzen. Le Monde diplomatique, Juni 1995.