Meinungsfreiheit

■ betr.: „Krasse Provokationen“ von Ronald Dworkin, taz vom 17./18. 6. 95

[...] 1. Ihre Vermutung, daß es unwahrscheinlich sei, „daß das Risiko faschistischer Gewalt in Deutschland substantiell zunehmen würde, wenn man Fanatikern erlaubte, den Holocaust zu leugnen“, ist rein spekulativ und durch die Geschichte selbst widerlegbar. Auf das Experiment, das diese Spekulation be- oder widerlegen könnte – auf Kosten von Opfern ebenjener Gewalt – möchte ich zumindest mich nicht einlassen. Abgesehen davon ist eine essentielle Zunahme faschistischer Gewalt doch wohl ebenso zu verhindern.

2. Indem Sie die „wahre Antwort“ auf ihre Frage nach der Auswahl der zu verbietenden Äußerungen zuallererst „jüdischen Repräsentanten“ zuschreiben, um am Ende ihres Artikels wieder „Opfer“ fordern zu können für den „Preis der Freiheit“ ist nicht nur zynisch und menschenverachtend: Sie erwecken hier zudem den Eindruck, als würde das Verbot der „Auschwitz-Lüge“ nur durch eine kleine Machtkaste einer jüdischen Lobby getragen, der sich eine zensierende Staatsräson liebedienerisch unterwirft. Wieder einmal also nehmen die Täter die Opferrolle an, soll Geschichtsrevisionismus bemäntelt werden mit einer vordergründung aktuellen und scheinbar notwendigen – weil in ihrem Ausbleiben bedrohlichen – Diskussion um Freiheit und die Grenzen einer „wehrhaften Demokratie“.

3. Ihre Vergleiche der Unterdrückung des Darwinismus in Tennessee und der Fahtwa über Salman Rushdie mit der Unterdrückung der „Auschwitz-Lüge“ sind, wo nicht inhaltlich an den Haaren herbeigezogen, so zumindest logisch unrichtig. Es gibt nicht, wie Sie mit den Vergleichen nahelegen, die Zensur als weltumspannendes und immer gleiches – quasi naturgegebenes – Phänomen: Zensur ist immer situations- und kontextabhängig. Im Falle des Verbots der „Auschwitz-Lüge“ von Zensur zu sprechen ist auch insofern unrichtig. Die gegenwärtige Diskussion und das Verbot der „Auschwitz-Lüge“ ist nicht zu vergleichen mit religiösem Verhalten in Tennessee um 1920 oder den Unterdrückungsmechanismen einer diktatorischen Religionsausübung. Und: Weder in Tennessee noch im Iran handelt es sich um das Verbot der Leugnung eines historischen Faktums der grauenvollen Vernichtung von sechs Millionen Menschen. Die augenscheinlich völlig verschiedenen Prämissen versuchen Sie zugunsten einer relativierenden Geschichtsauffassung unter dem Oberbegriff „Zensur“ zu nivellieren. Das wird nicht nur keinem der herbeizitierten Beispiele gerecht, es errichtet als Macht- Prinzip einen Begriff von Freiheit, der in den Opfern, die für ihn gebracht werden sollen, selbst geopfert wird.

Historische Tatsachen sind nicht relativ zu der Auffassung, die man von ihnen hat. Sie werden es, wenn – und das haben Sie wirklich überzeugend vorgeführt – man sie zum Instrument macht für eine Verschiebung der Diskussion um die Bedrohung der Integrität und Würde der Vernichteten auf eine um die mutmaßlich durch diese Opfer bedrohte Freiheit der Meinungsäußerung.

Freiheit, Herr Dworkin, äußert sich zuerst und fundamental in der Verantwortlichkeit des Schreibers vor dem, was und über was er schreibt. Die Zensur ist nicht die Bedrohung. Bedrohlich ist eine Argumentation, die unter dem Prinzip Zensur alle geschichtlichen Vorgänge zu nivellieren und damit auszulöschen sucht. Jens Emil Sennewald, Hamburg