Fundgrube Deutschland

Aufmerksame Betrachtung eines seltsamen Schatzes  ■ Von Gabriele Goettle

An einem schönen, aber noch kühlen Morgen folgte ich unserem Hund, der bellend über eine Bergwiese davongestrebt und zwischen den Bäumen des Thüringer Waldes verschwunden war. Oben angekommen, fand ich eine Quelle und die schönste Aussicht über das kleine, abseits gelegene Tal, in das uns am Abend zuvor der Zufall verschlagen hatte. Dieses Fleckchen im östlichen Teil des Thüringer Waldes ist dünn besiedelt und durchzogen von kleinen Tälern, steinigen Bächen, alten Handelswegen. Goldisthal, Katzhütte, Gr. Breitenbach heißen die Orte in der näheren Umgebung, weiter entfernt, im Süden, liegt der berühmte Glasbläserort Lauscha und in nördlicher Richtung die kleine Stadt Königsee. In dieser Gegend gab es im Mittelalter Goldbergbau, wurde die Kunst der Stollenkonstruktion erprobt. Vom 19.Jahrhundert an machte sich fürstlicher und bürgerlicher Unternehmersinn mit Metallverhüttung, Holzverarbeitung und Instrumentenbau über die materiellen und menschlichen Ressourcen her. Auch bei der Erzeugung des „weißen Goldes“ wollte man ungerne hintanstehen. Hier wurden die ersten Porzellanfabriken Thüringens gegründet. Einiges davon hat sich bis in die neunziger Jahre des 20.Jahrhunderts hinein erhalten und ist erst mit dem Ende der DDR untergegangen.

Auf einem ausgetretenen Wildpfad ging ich in den Wald. Vom Hund war weder etwas zu sehen noch zu hören. Es roch nach Harz und feuchter, modernder Erde. Von den Zweigen der alten Fichten hingen zottige Flechten herab, und überall zwischen den Moospolstern standen leuchtendrote Fliegenpilze, die jungen prall und eiförmig, die älteren mit schön gewölbten, weißbetupften Hüten. Das Innere dieses Waldes war in einer längst vergessenen Weise still und märchenhaft. Ich fühlte förmlich den Henkel jenes Körbchens mit dem Kuchen und der Weinflasche an meinem Arm hängen, hörte das Knacken im Unterholz und eine tiefe Stimme sagen: „Ich bin's, der Wolf!“

Am Rande einer Lichtung setzte ich mich auf einen Baumstumpf, stocherte versonnen im Boden herum, hob das Moos auf zwischen den gekrümmten Wurzeln und fand plötzlich einen kleinen, weißen Kieselstein. Er hatte Augen, Nase und Mund. Ich betrachtete ihn genau, kniff die Augen zu, um schärfer sehen zu können – kein Zweifel, das waren keine zufällig entstandenen Formen, das war die Nachbildung eines menschlichen Gesichtes, eines Kopfes. In der Hoffnung, auch noch den Körper zu finden, grub ich vorsichtig weiter und stieß schon bald auf etwas Festes: In der dunklen Erde lagen zwei nackte, weiße, armlose Püppchen, dicht nebeneinander wie in einem Grab. Sie waren kaum daumengroß und hatten biedermeierartig geformte Hauben auf dem Kopf. Als ich sie behutsam in die Hand nahm, gaben sie jenes helle Knirschen von sich, das auch sehr feste, kleine Steinchen erzeugen, wenn man sie aneinander reibt. Während ich sie betrachtete und Mutmaßungen über ihre Beschaffenheit und Herkunft anstellte, packte mich plötzlich eine unbändige Gier nach mehr, so daß ich meine Fundstücke einsteckte und weitergrub unter der Wurzel. Diesmal legte ich zehn Püppchen frei. Eines war ohne Kopf, aber es war nicht der Körper zum anfangs gefundenen Kopf. Dieser Körper war winzig klein, kaum größer als eine viertel Daumenlänge. Die anderen Püppchen glichen teils denen mit den Häubchen, teils waren sie von archaisch schmaler Schlichtheit, ohne Arme, mit nur angedeutetem Gesicht und Haar, etwa fünf Zentimeter lang. Ich stand auf, legte sie auf den Baumstumpf, suchte mir einen kräftigeren Stock, kniete nieder, grub weiter unter das Wurzelwerk hinein. Und meine fiebernde Gier wurde umgehend belohnt durch helles Knirschen. Ein ganzes Nest war gefunden. An den Füßen zog ich die Püppchen aus dem Boden hervor: welche mit Häubchen, die archaischen, Winzlinge mit eng an den Kinderkörper gepreßten Ärmchen, dieselbe Form zwei Zentimeter größer. Auch fanden sich vereinzelte kleine Arme und Köpfe. Jedes Püppchen schien individuelle Züge zu tragen, obwohl sie doch offensichtlich in Gußformen entstanden waren. Einige, glasiert und blendend weiß, sahen aus wie neu, die meisten aber hatten eine leicht bräunliche Färbung, die sich auch mit Spucke nicht wesentlich aufhellen ließ.

Ich grub und grub. Fand. Häufte auf. Die Wurzeln des längst gefällten Baumes hatte ich um den Stumpf herum freigelegt. Sie zogen sich unmittelbar unter der Oberfläche dahin, den Schatz verbergend, ihn förmlich festhaltend. Ich hob ihn. Und während der Exhumierung der Püppchen stieg aus ihrem wundersamen unterirdischen Spielzeugreich ein dunkler Wohlgeruch aus Moder und Pilzen herauf. Plötzlich durchfuhr mich ein Schreck, etwas abseits stand ein Hund. Mein Hund. Er mußte mich schon eine ganze Weile beobachtet haben, doch nun, da ich ihn bemerkt hatte, sprang er lebhaft und erfreut auf mich zu, beschnupperte den Fund und begann seinerseits zu graben. Er warf aber Erde und Püppchen unterschiedslos mit den Pfoten weit von sich, auf der Suche nach vermutlich irgendeinem kleinen Nager, so daß ich ihn lieber davon abhielt weiterzumachen. Ich hatte den dringenden Wunsch, keines der Püppchen zurückzulassen. Da das unmöglich zu sein schien, scharrte ich die kleinen Gruben wieder zu, darüber legte ich die Moospolster. Dann zog ich mein Unterhemd aus, knotete es unten zu und füllte es mit den Püppchen. Ein ziemlich pralles Bündel. Ich säuberte die Fläche des Baumstumpfes und zählte die Jahresringe. Es waren mehr als hundert. Mit Herzklopfen stellte ich mir vor, daß die Püppchen vielleicht noch zu Lebzeiten von Karl Marx hier hingeworfen worden waren. Sie hatten hier die Jahrhundertwende verbracht, zwei Weltkriege samt Faschismus, Gründung und Untergang des ersten sozialistischen Versuchs auf deutschem Boden überdauert. Über ihnen war eine mächtige Fichte herangewachsen und gefällt worden. Wäre nicht jene an sich ganz unbedeutende Verkettung von Zufällen eingetreten, sie hätten auch über die Jahrtausendwende hinaus unentdeckt in ihrem Versteck liegen bleiben können.

Dr. Hofmann, Direktor des Spielzeugmuseums Sonneberg (auf meine briefliche Anfrage mit einigen beigelegten Püppchen): „Sehr geehrte Frau Goettle, herzlichen Dank für Ihre ,merkwürdigen Kleinen‘. Ihre Schätzung auf das Ende des 19.Jahrhunderts dürfte richtig sein, denn gerade bei den kleinen Puppen sind archaisch anmutende Formen lange benutzt worden. Zur Geschichte der Puppen kann man lange Vermutungen anstellen, einerseits kann es sich um von Kindern vergessene Stücke handeln, andererseits – und dies ist gerade bei Katzhütte nicht unwahrscheinlich – um Ausschußware der dortigen bekannten Puppenfabrik von Hertwig & Co.“

Herr Bierbach, ehem. Schuldirektor und Heimatforscher, Katzhütte:

„Da ist früher viel in Heimarbeit gegossen worden, und mit den alten Gipsformen haben sich die Leute ihre Häuserwände ausgebessert, weil sie kein Geld hatten. Die getrockneten Puppenkörper, Köpfe, Beine, Ärmchen und alles, die sind dann am Wochenende in der Fabrik abgeliefert worden von den Heimarbeitern. Das mußte alles tadellos sein, was da schiefging, das wurde weggeschmissen, irgendwohin, Müllabfuhr gab's ja noch nicht damals. Hier wurden ja früher überall Puppen gemacht, in Groß Breitenbach machten sie Puppen und Pfeifen. Mal sehen, ob ich Ihnen über Katzhütte was erzählen kann. Die Firma Hertwig Porzellanfabrik ist 1864 gegründet worden, und 1888 stand sie schon in voller Blüte. Fast der ganze Ort lebte von ihr. Die Kapitalisten damals hatten noch ein schlechtes Gewissen, daß sie was schuldig blieben. Der Gründer hat nicht nur eine Krankenkasse für seine Arbeiterschaft eingerichtet, sondern auch eine weithin bewunderte Badeanstalt. Man erzeugte Nippes, Gebrauchsporzellan und Kinderköpfe und Puppen aus Porzellan. 1888 hatte die Fabrik 300 Arbeiter und 600 Heimarbeiter. Es wurden bis zu 2.000 Dutzend Puppen pro Tag hergestellt, das meiste ging in den Export nach Übersee, Amerika und Australien. 1920 hatte sie sieben Brennöfen und 500 Arbeiter. In den dreißiger Jahren wurde dann viel aus Biskuitporzellan hergestellt, das war eine veredelte Masse. Auch im 3. Reich hat Katzhütte sehr viel exportiert nach USA, darunter übrigens auch verschiedene Negerpuppen. Der letzte Hertwig hat nach dem Kriege hier weitergemacht und später, wie das in der DDR so war, halb freiwillig, halb gezwungen, seinen Antrag auf staatliche Beteiligung gestellt ... es hieß anders, der Fachausdruck fällt mir jetzt nicht ein, jedenfalls er, als alter Besitzer, ist dringeblieben. Bald aber ist die Fabrik ganz in staatliche Hand übergegangen. Es wurden dann auch keine Puppen mehr gemacht, sondern nur noch Zierporzellan. Die Feinsteingutpuppen gingen nicht mehr. Riedeler hat damals in Königsee seine Gummipuppen gemacht, das war ein Riesenexport

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schlager. Der hatte seine Heimarbeiter überall sitzen, auch hier in Katzhütte, das war so ein regelrechtes Verlagssystem zu DDR- Zeiten! Hertwig wurde VEB Zierkeramik. Sie haben Nippes gemacht, Tiergruppen, Hunde, so was. Die Bierkrüge waren in der ganzen DDR ein begehrter Artikel. Da sind mehr gemaust und verschoben worden, als regulär über die Bühne gingen. Uns haben sie ja dann 1983 ausgeplündert, diese sogenannte Kunst- und Antiquitäten GmbH, die zu Schalck- Golodkowskis KoKo-Imperium gehörte. Sie haben fast das gesamte Musterzimmer mit Katzhütter Porzellan ausgeräumt und mitgenommen. 15.000 unersetzliche Stücke, Unikate, und zwar auf Weisung des damaligen Ministers für bezirksgeleitete Lebensmittelindustrie. Waage heißt der Mann. Meine Version: Dahinter steckte ein Verrat von irgend jemandem hier in Katzhütte. Der hat den Tip weitergegeben, und alle Beteiligten haben sich was dazuverdient. Aber das sind alte Geschichten. Ein Teil jedenfalls konnte von hier in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ins Museum nach Eisfeld geschafft werden, ein anderer Teil stand in Berlin noch in den Lagern nach der Wende. Da kann Ihnen der Herr Gauß am besten Auskunft geben vom Otto Ludwig Museum. Nach der Wende wurde auch die Zierkeramik in Grund und Boden gewirtschaftet. Das war eigentlich nicht zu verstehen, weil erst in den achtziger Jahren für einige Millionen Modernisierungsmaßnahmen vorgenommen worden waren. Fast alle ehemaligen Betriebsangehörigen sind heute noch arbeitslos.

Wissen Sie, als ich in der Schule tätig war – ich bin ja schon lange vor der Wende aus Altersgründen in den Ruhestand gegangen – hatte ich dreißig Jahre lang eine Arbeitsgemeinschaft Historie. Zwar war mein Hobby an sich die Regionalgeschichte, die Heimatkunde, aber heute kann man ja froh sein, daß man sich etwas auskennt in der Weltgeschichte ... oder auch in der deutschen ... grade gestern habe ich den Mitteldeutschen Rundfunk angerufen und mich darüber beschwert, daß über den Sender Lügen verbreitet werden. Geschichtslügen! Es wurde behauptet, die Selbstbefreiung des Konzentrationslagers Buchenwald sei eine Legende gewesen zur Verherrlichung des kommunistischen Widerstandes. Aber so einseitig wie in der DDR die Geschichte betrachtet wurde, so unhistorisch ist der Versuch, sie für heutige Interessen hinzubiegen. Geschichte ist das, was gewesen ist! Und wer den Augenzeugen nicht glaubt, kann die Berichte der amerikanischen Militärs nachlesen. Häftlinge in Buchenwald haben die SS entwaffnet, 125 Mann gefangengenommen und sie den Amerikanern, die kurz darauf ankamen, übergeben. Ob ansonsten der kommunistische Widerstand sich korrupt gezeigt hat im Lagersystem, oder was sonst vorgefallen ist, das müssen zuverlässige Historiker herausfinden, darüber müssen die Beteiligten reden – von denen ja viele noch leben. Geschichte ist so was wie unser kollektives Gedächtnis, sie darf keiner Partei gehören und keiner Ideologie angepaßt werden ... Na, ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Erfolg, und fragen Sie mal nach im Museum in Eisfeld.“

Hans Gauß, Direktor des Otto Ludwig Museums, Eisfeld:

„Eine Zuschreibung dürfte schwierig sein. Solche Stücke sind von mehreren Thüringer Porzellanfabriken gemacht worden, da gab es oft überraschende Ähnlichkeiten zwischen den Produkten. Über die frühe Phase weiß man relativ wenig. In Katzhütte beispielsweise hat man um 1900 alle alten Modelle auf den Mist geworfen, die Produktionspalette und somit die Muster wurden völlig neu ausgelegt. Wie in allen anderen Betrieben der Luxusbranche mußten die zahlreichen Modelle ständig der neuesten Mode angepaßt werden. Der Konkurrenzkampf war hart, und wer nicht zeitgemäß war, konnte schnell untergehen, besonders seit Beginn des 20.Jahrhunderts. Die ganz alten Stücke aus der Katzhütter Produktion lassen sich nicht mehr nachweisen ... außer in der Erde. Wenn Sie um die alten Porzellanfabriken herum den Boden aufgraben, da stoßen Sie überall in Thüringen auf Puppen, Puppenköpfe, Pfeifenköpfe und andere Porzellane. Und es kann durchaus sein, daß einiges auch von den Heimarbeitern abgeladen wurde im Wald. Von meiner Frau gibt es übrigens einen Text über die Musterstube von Katzhütte, den finden Sie in Heft 23 der Südthüringer Forschungen, Museum Meiningen, 1988, und im selben Heft ist auch ein Text von mir über Porzellanpuppen aus Katzhütte. Das könnten Sie sich in Meiningen bestellen, vielleicht hilft es Ihnen ein wenig weiter. Ich beschäftige mich ja schon lange mit diesen Dingen, damals war ich noch Direktor im Spielzeugmuseum Sonneberg ... ah, Sie waren dort, dann haben Sie ja auch die Ausstellung im Keller gesehen. Wir haben sie damals zu DDR-Zeiten angelegt, um die Lebensbedingungen der Kinder in den Spielzeugmacherfamilien zu zeigen, die Heimarbeit, die Enge. Also alles, was auf der linken Seite des Ganges ist, die Heimarbeiterstube, das Kaufmannskontor, die Schulstube, ist bis heute so geblieben. Die rechte Seite ist weg, da hatten wir die Lebensbedingungen der Kinder im Sozialismus, mit Loblied auf die DDR natürlich. Es gab zum Beispiel einen getreuen DDR-Hortraum mit all den typischen Sachen. Da war einiges ... die DDR hat ja viel vom Westen abgekupfert, nicht nur zu ihrem Vorteil, sogar ein Barbie-Puppen-Versuch wurde mal gemacht, dann aber aufgegeben. Und um auf Katzhütte zurückzukommen, wir hatten in Sonneberg, damals 1983, von der VEB Zierkeramik Puppen aus dem Musterzimmer bekommen, wofür wir sehr dankbar waren. Schöne Stücke, viele Original-Musterkarten, das sind heute alles nur noch Leihgaben der Erben. Ehrlich gesagt, so macht die Arbeit keine Freude mehr. Sie war vorher schon getrübt, doch nun vollendet sich das, was Herr Schalck-Golodkowski schon 1983 begonnen hat. Geschichtliche Zeugnisse werden zur Handelsware gemacht, zu verkäuflichen Antiquitäten! Diese finstere Stunde hat sich jetzt wiederholt. Was vom Raubzug 83 übrigblieb, das haben sich die Erben wiedergeholt, im Zuge der Regelung „Rückgabe vor Entschädigung“. Das Museum in Eisfeld hier hat ja 1987 einen großen Teil seiner Bestände ausgestellt, die ihm von der VEB Zierkeramik übergeben worden waren. Davon ist nichts übrig! Auf der Grundlage des geltenden Rechtes ist den Erben die Sammlung übergeben worden, aus dem Museum heraus. Ich darf gar nicht darüber reden, so sehr schmerzt mich das. Glücklicherweise bin ich schon mit einem Bein im Ruhestand, aber ich muß sagen, das ist ein bitterer Abschluß.“

Horst Steinmann, A. Riedeler GmbH & Co. KG Puppenfabrik, Königsee:

„Da sind Sie bei mir an den Richtigen gekommen. Unsere Fabrik ist die älteste Puppenfabrik Deutschlands, älter als Steiff, als Katzhütte, und wie sie alle heißen. Also wenn die Sache Sie interessiert ... Sie müssen aber etwas Geduld haben. Die Geschichte ging so: 1864 hat August Riedeler von seinem verstorbenen Vater Christian Riedeler die Porzellanfabrik übernommen. Sie lag in einem Vorort von Königsee, im damaligen Nachbarfürstentum Sondershausen. Voriges Jahr stand sie noch. Ein anderer Riedelersohn war Goldschmied und ist bis in die Türkei gewandert, nach Konstantinopel. Dort hatte er Glück, fand Arbeit als Goldschmied am Hofe des Sultans. Er hat goldene Mokkatassen angefertigt, und sie müssen etwas Besonderes gewesen sein, denn der Sultan gab sie seinen Ehrengästen als Geschenk mit. Aber als dann der russisch-türkisch-englische Krimkrieg kam, Mitte des vorigen Jahrhunderts, hörte das schöne Leben auf. Über den Krieg können Sie bei Tolstoi nachlesen, Belagerung der Festung Sewastopol, da hatte übrigens auch Florence Nightingale ihren ersten Einsatz als Engel der Verwundeten, aber ich will nicht abschweifen. Der Sultan jedenfalls brauchte seine Goldreserven für den Krieg, an Mokkatassen bestand kein Bedarf, die Goldschmiede wurden vom Hof entlassen, und so kehrte Riedeler wieder nach Königsee zurück. Irgendwann hat er mal durch Zufall in einer Porzellanfabrik im Thüringer Wald gesehen, wie man goldene Engelchen machte für Gräber und Kirchen, da kam ihm der Gedanke, goldene Mokkatassen aus Porzellan zu machen. Er hat sie an den osmanischen Hof geschickt, mit Erfolg. Bald haben Hunderte von Leuten in Thüringen Mokkabecher gedreht, nur für den Orient. Im Volksmund hießen sie „Türken-Käppchen“. Sie wurden überall fleißig nachgeahmt.

Als dann nach dem Deutsch- Französischen Krieg, nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches, endlich die Monopole der Fürstentümer liquidiert wurden, entfiel auch das Porzellan-Monopol Schwarzenburg/Rudolfstadt, durch das die Familie Riedeler ja gezwungen worden war, im benachbarten Fürstentum Sondershausen ihre Porzellanfabrik zu gründen. Diese „Türken-Käppchen“ jedenfalls waren ein Riesenerfolg und wurden überall fleißig nachgeahmt. In den Fabriken wurden von den Frauen ja nebenbei auch immer Puppen aus Pappmaché gemacht, auch diese Puppen hatte man dann aus Porzellan gefertigt, ganze Püppchen und Kopf mit Brustteil und gestopftem Körper, alle Sorten. Auch das wurde ein großer Erfolg. Und als es eines Tages zu einem Exportstau der Mokkatassen kam, hat man kurzerhand Henkel angebracht und das Ganze als luxuriöses KinderService für den eigenen Markt herausgebracht, denn es gab damals ja ein immer wohlhabender werdendes, dem Luxus zugetanes Bürgertum, das sich mit allen Zeichen des Wohlstandes ausstatten wollte. Und 1898 wurde dann die Eisenbahn in Königsee gebaut, und da hat Riedeler dann einen zweiten Betrieb direkt am Bahnhof errichtet, das ist der, in dem wir hier heute noch sitzen, und damals war's dann so, daß drüben das Rohporzellan gemacht wurde und hier die Puppen.

Ja, der Betrieb hat viel durchgemacht und hat sich doch gehalten über die Zeit. Im Zweiten Weltkrieg damals wurde die Spielwarenproduktion eingestellt hier, und es kam ein Rüstungsbetrieb aus Schlesien rein. Nach dem Krieg haben die Russen alles demontiert, 1945 mußte ich sozusagen von Null anfangen. Daß ich überhaupt gleich anfangen konnte ... weil Sie nach Entnazifizierung fragten – das war eine politische Angelegenheit. Mein Vater war politisch tätig bei den Liberalen. Nach dem Attentat auf Hitler war bei uns Haussuchung, und plötzlich hat man die halbe Familie mitgenommen nach Sachsenhausen. Dort sind sie umgekommen. Als ich dann zurückkam aus dem Krieg, wurde ich sofort ein Mitbegründer der damaligen liberaldemokratischen Partei. In Karlshorst, unter dem russischen Oberst Schulpanow, hat das stattgefunden. Ich bin ja heute das älteste Mitglied der Partei, bin so eine Art Zeitzeuge, da haben Sie Glück gehabt. Ja, ich habe also hier angefangen, den Rüstungsbetrieb wieder auf Puppenproduktion umzustellen, und, nebenbei bemerkt, da lief mir auch ein junges Mädchen über den Weg, eine Riedelertochter, die habe ich gleich geheiratet, ohne zu wissen, daß wir verwandt waren. Sie ist meine Großcousine, stellte sich heraus, unser gemeinsamer Großvater war zugleich der Gründer des Betriebes. So kam alles erneut zusammen. Wir haben mühsam wieder aufgebaut, und als wir eines Tages keine Kohlen bekamen von den Russen für unsere Brennöfen, da habe ich mir gesagt: Machen wir unsere Puppen doch aus einem anderen Material. Ich kam doch aus dem Gebiet der Ersatzstoffe, das war mir ja nichts Fremdes. Dazu müssen Sie wissen, ich habe während des Krieges als Entwicklungsingenieur gearbeitet. Zuerst für Siemens-Telefunken, wir haben Steuerungssysteme gebaut und dann als Forschungsgruppe die Messungen gemacht in Göhren auf Rügen, das liegt ja genau gegenüber von Peenemünde. Und wenn dort also die Raketen abgeschossen wurden, haben wir beobachtet und unsere Aufzeichnungen gemacht. Also, das war noch vor der Bombardierung von Peenemünde durch die Engländer. Danach mußte ja dann das ganze V-II- Programm verlagert werden, die Großfertigung ging nach Nordhausen in den Harz, und die Entwicklungsabteilung ging nach Garmisch-Partenkirchen, der in der Welt einzigartige Windkanal an den Kochelsee. Also, ich kenne den ganzen Laden! Ich war dann an der Technischen Hochschule in Berlin und bin, als wir in Berlin ausgebombt wurden, an die Technische Hochschule Breslau. Ich habe die ganzen Unterlagen noch hier aus der Festung Breslau. Ich habe Kristalle gezüchtet an der Hochschule, heute nennen sie das Chip, die wurden damals zwar anders gemacht, aus Kohlenstoffe, aber dennoch ... Ja, und als dann die Russen kamen im Februar 45, nicht wahr, da sagten mir alle, ich solle doch nach Königsee gehen, meinen Heimatort, wo es ja auch eine Dependance gab. Da bin ich mit meinem ganzen Breslauer Institut nach Königsee in die Puppenfabrik umgezogen, die ja damals noch Rüstungsbetrieb war. Wir haben da weitergeforscht. Aber nicht lange.

Und dann – wir haben jetzt Friedenszeiten, und ich komme wieder auf die Puppen zurück, von denen ich Ihnen schon erzählte – wurden einige Versuche gemacht und so die erste Weichplastepuppe der Welt erfunden. Die wurde gefertigt aus Polyvinylchlorid, das besteht an sich aus Kohle, Kalk und Salzsäure im wesentlichen. Sie kennen es unter dem Namen PVC, das waren alles meine Patente, die ich in Ost und West hatte. Heute werden sogar die Sexpuppen und die ganzen Artikel dieser Branche aus der Vinylgruppe erzeugt. Aber natürlich nicht von Riedeler, hier geht es ganz züchtig zu. Wir haben ja unsere alten Modelle wiedergefunden und machen auch für andere Betriebe Puppen, für westdeutsche Betriebe. Wenn Sie eine Steiff-Puppe zum Beispiel kaufen, dann ist die aus Königsee. Wir stehen heute auf mehreren Beinen, Kunststoffentsorgung ist so was, wir entsorgen und machen daraus zugleich was Neues. Für die Puppenkleidung haben wir nun japanische Nähautomaten, das ist ja alles anders geworden nach der Wende. Heute gibt's keine Heimarbeit mehr, viel zu teuer. Wir stehen unter einem ungeheuren Preisdruck. Das war natürlich alles noch anders früher, ruhiger. Wenn ich so denke, von 1948 bis heute ... Damals kam die erste Plastepuppe, Marke ARI, Riedeler Königsee. Und so haben wir den Betrieb aufgebaut, mit neuartigen Puppen ...

Erst 1972 sind wir verstaatlicht worden mit einer Belegschaft von 1.200 Mann. Wir waren die letzten Mohikaner, nicht wahr. Von den 1.200 Mann waren nur zwei SED- Genossen, der einzige Betrieb in der DDR, in dem das so war! Damals hatten wir einen Tagesausstoß von 50.000 Puppen. In der Leitung saß nach wie vor ich, immer im Amt, heute bin ich weit über die siebzig und habe noch viel vor. Nach der Wende hatte ich ja an Gerlach geschrieben, bin dann von Modrow nach Berlin gerufen worden, und dann, aufgrund des Gesetzes Nr.17 zur Rückgabe der 72er Betriebe, als einer der ersten Betriebe in der DDR vom Minister reprivatisiert worden. Daraufhin wurde ich Präsident der Industrie- und Handelskammer Thüringen und habe in dieser Eigenschaft die gesamte Reprivatisierung hier mitvorangetrieben. Denken Sie mal, ich stand neben dem Bundeskanzler Kohl, als er in Halle mit Tomaten beworfen wurde – und das ist die Ungerechtigkeit, die ich nicht vergessen kann: ICH habe die Tomaten abgekriegt, der ich mich doch mit allen Kräften um die Förderung Thüringens bemüht habe ... vor ihm hatte man einen Regenschirm aufgespannt!“