Eine Art Abendschule fürs Volk

■ Der senegalesische Regisseur Ousmane Sembène, Gast der Französischen Filmtage in Tübingen, über afrikanische Realitäten, koloniale Reste und seine Filme

Normalerweise dümpelt Tübingen in träger Butzenfensterscheiben-Romantik vor sich hin. Nur einmal im Jahr sieht man die schwäbische Urbevölkerung, die „Reingeschmeckten“ und die französisch parlierenden Fremden wie vom Affen gebissen durch holprige Gassen hetzen, in holder Eintracht vor Kinos Schlange stehen und mittags in übervölkerten Gasthäusern sich an native food, Maultaschen und Schupfnudeln nämlich, ergötzen. Köstlisch!

Was kann das schwäbische Adrenalin, das sich seit den Bauernkriegen hartnäckig jeder Aktivierung verweigert, aus seinem gemütlichen Plätzchen im albländischen Nebennierenmark hervorlocken? Die inzwischen zum zwölften Mal zelebrierten Französischen Filmtage sind der Grund, daß in Tübingen kollektiv der Schweiß ausbricht. Auch Ousmane Sembène, das senegalesische Aushängeschild der Afrikafraktion der Filmtage, blieb nicht von einem Marathon-Parcours durch Kinosäle und Diskussionsrunden verschont.

Sembène, der sich nach einem bewegten Leben als Soldat, Hafenarbeiter, Journalist, aktives Mitglied in der CGT und KP zunächst der Literatur zuwandte, realisiert „erst“ seit dreißig Jahren Filme. Sein Filmdebüt „La Noire de ...“ (1966) war der erste Spielfilm Schwarzafrikas und begründete seinen Ruf weltweit. „Filmemachen in Afrika ist kein Luxus, sondern ein existentielles Bedürfnis. Dabei sind Literatur und Film eng miteinander verzahnt, sie interagieren. Deshalb arbeite ich meistens an beidem gleichzeitig“, erklärt Sembène, um die Struktur seiner art engagé bloßzulegen. Er ist alt und weise. Er ist Rezeptionsästhet und Pfeifenraucher. Und er versucht, die rassistisch-kolonialen Machtverhältnisse eines korrupten Staatsapparates aufzuzeigen, der das afrikanische Volk in Unmündigkeit, Armut und Bewußtseinsverlust langsam ausbluten läßt. Er ist ungeheuer sympathisch.

Während er in Tübingen von einem table ronde zur nächsten zockelt, muß er ganz besonders seltsam anmutende Fragen beantworten, wie die nach der Motivation zu seinen Filmen.

Mit Engelsgeduld fängt er bei Adam und Eva an: „Mit Hilfe des Films kann ich in Afrika mehr Menschen erreichen. Ich persönlich ziehe das Buch vor, da es mir erlaubt, die Charaktere deutlicher zu zeichnen, aber Bücher sind im Senegal, wie überall in Afrika, für die Elite. Die meisten meiner Landsleute können weder lesen noch schreiben. Deshalb begreife ich das Kino als eine Art Abendschule fürs Volk.“

Anzusetzen, so Sembène, sei bei der „Eroberung des Blicks als Faktor der Freiheit und Bewußtwerdung“. Der Blick der Kamera auf eine möglichst authentische und uninterpretierte afrikanische Realität dient dem Zuschauer so als Verhärtung und Entfremdung seiner eigenen Möglichkeiten. Indem er auf sich selbst zurückgeworfen wird, kann er über den Weg der Bewußtwerdung den ersten Schritt in eine kulturelle und fürderhin politische Emanzipation wagen. „Ich sehe den Film vor allem als Möglichkeit, sich selbst zu treffen, die eigene Kultur besser kennenzulernen. Wir brauchen die amerikanische und europäische Ästhetik und ihre Helden nicht.“

Da klingelt es sogleich glockenhell bei der an HipHop geschulten jüngeren Generation. „Elvis was a hero to most / But he never meant shit to me you see / Straight up racist that sucker was / Simple and plain / Mother fuck him and John Wayne.“

Sembène ist sozusagen der public enemy der politisch-ökonomisch und sozialen Verkrampfungen französischer Kolonialisierung. Glücklicherweise ergeht er sich nicht in plakativer Kritik. Im Gegenteil, subtil und mit viel Humor unterläuft er jeden Ansatz einer grobkörnigen Schwarzweißmalerei. So läßt er in „Mandabi“ (1968) alle Beteiligten auflaufen. Der starre und unmenschliche bürokratische Apparat, der dem arbeitslosen Ibrahim zum Verhängnis wird, wäre nicht ohne dessen einfältig-fatalistische Haltung denkbar.

„Seit dreißig Jahren werden wir autoritär regiert. Im Moment besteht die Kolonisierung Afrikas in ihrer schwarzen Bourgeoisie. Wir haben verlernt zu denken und zu handeln und sind durch die humanitäre Hilfe zu einer Art Verdauungsmaschine degeneriert. Das Geld der europäischen Arbeiter und Bauern verschwindet in den Taschen der afrikanischen Bourgeoisie. Deswegen mache ich Filme, es ist mein persönlicher Kampf für ein autonomes Afrika. Jeder kann ihn führen. Jeder muß ihn führen.“ Silke Bass