Tati mit Erdbeeren

Mal wieder zog Karsten Braasch das große Los in der 1. Runde eines Grand-Slam-Turniers  ■ Aus Wimbledon Matti Lieske

Der realexistierende Sozialismus stünde wohl noch heute in voller Blüte, wenn im Osten Deutschlands Engländer statt der DDR-Bürger gewohnt hätten. Engländer verlassen nur ungern ihr Land, wählen, wenn es irgendwie geht, immer dieselbe Regierung, stehen mit Vergnügen Schlange, leisten sich ein vollkommen überflüssiges Politbüro, das sie königliche Familie nennen, betrachten stundenlang ereignislose Verrichtungen wie Cricketmatches, wodurch sie das ideale Publikum für SED-Parteitage abgeben würden, und wäre ihr Land nicht ohnehin eine Insel, hätten sie es längst mit einer Mauer umgeben.

Weil die Engländer aber nicht in der DDR wohnen, sondern in England, schufen sie sich Wimbledon. Hier können sie wenigstens zwei Wochen pro Jahr einem Teil ihrer Leidenschaften nach Herzenslust frönen. Sie stehen Schlange nach Eintrittskarten, nach den Zubringerbussen, nach Postkarten, nach Souvenirs, und sie stehen natürlich Schlange nach Erdbeeren. Oder vielmehr: nach Erdbeerberechtigungsmarken. Diese tragen den Aufdruck „Admit one“, und wenn man sich in der Erdbeerentgegennahmeschlange anstellt, bekommt man ein Becherlein zugestanden, welches 1,75 Pfund kostet.

Die Erdbeeren sind auch in Wimbledon rot, ihre Konsistenz ist irgendwie erdbeerartig, im Gegensatz zu den Tennisbällen sind sie nicht weicher als in den Jahren zuvor, und ihr Geschmack wird nicht durch übermäßiges Aroma beeinträchtigt. Übergossen werden sie auf Wunsch mit einer weißen Brühe, die „cream“ genannt wird und die man auf dem Boden des Bechers vorfindet, wenn man alle Erdbeeren aufgegessen hat. Haben Engländerin und Engländer pflichtschuldigst ihre Ration Erdbeeren verzehrt, begießen sie das Ereignis mit einem limonadigen Gebräu namens Pimm's, das so merkwürdig schmeckt wie es heißt. Sind all diese rituellen Verpflichtungen absolviert, ist die Zeit gekommen, sich der Betrachtung des gemeinsamen Aufschlagtrainings von Pete Sampras und Karsten Braasch, offiziell Eröffnungsmatch genannt, zuzuwenden.

Der unglücksrabige Braasch, der bei großen Turnieren in der ersten Runde unweigerlich gegen den jeweils besten Spieler antreten muß, so zuletzt bei den French Open gegen Andre Agassi, verfügt bekanntermaßen über eine klappmesserartige Aufschlagbewegung, die Titelverteidiger Sampras mit ortsüblichem Understatement als „unorthodox“ identifizierte. „Von Jacques Tati entlehnt“, behauptete ein französischer Journalist, Braasch hatte „den Film nicht gesehen“. Sampras bezeichnete seines Gegners Service jedenfalls als „sehr effektiv und kaum zu lesen“, wie er Braasch überhaupt als „kunstfertigen Spieler“ einstufte. Insgesamt sei der Deutsche als Gegner „a pain in the arse“, was jeder nach Gusto übersetzen mag.

Vielen Dank, meinte da Braasch, und fügte hinzu, er habe bereits bemerkt, daß alle berühmten Cracks gegen ihn immer schlechter seien als sonst. Irgendwie müsse das mit seinem Spiel zusammenhängen. Im Falle Sampras ganz gewiß. Wenig wußte der Weltranglistenzweite mit den Aufschlägen Braaschs anzufangen, und die Volleys und raffinierten Cross-Bälle des Außenseiters brachten ihn immer wieder mächtig in die Bredouille. Da auch Braasch am Anfang kaum etwas gegen die Aufschlaggewalt des Amerikaners ausrichten konnte, kam das Wimbledon-übliche Nicht-Spiel zustande. Doch am Ende des ersten Satzes änderte sich das. Gefördert von den weicheren und damit langsameren Bällen, die dieses Jahr in Wimbledon verwendet werden, entwickelte sich ein gutes Rasen-Match. Während Sampras nach seinem Sieg in vier teilweise umkämpften Sätzen zugab, daß er „nicht unbedingt ein glücklicher Camper“ gewesen sei, mit seiner Darbietung aber dennoch ganz zufrieden war, schwärmte Braasch noch ein wenig von seinem „größten Tenniserlebnis“, dem Auftritt auf Wimbledons Centre Court mit „Diener vor der königlichen Familie“. Nebenbei kämpfte der fröhliche Westfale gegen den Ruf des Kettenrauchers und Trunksüchtigen („Nur weil ich abends zum Essen gern ein Bier trinke, bin ich nicht zweimal die Woche besoffen“) und brachte auf einen simplen Nenner, warum er am Ende doch gegen Sampras verloren hat: „Er ist einfach der bessere Tennisspieler.“ Wir sind gespannt, auf wen Braasch in der ersten Runde der US Open trifft.