Des Schleiers subversive Kraft

Der Griff zum Kopftuch – auch eine Form der Emanzipation? Die Soziologin Nilüfer Göle sprach mit türkischen Frauen der islamischen Bewegung  ■ Von Edith Kresta

Der weibliche Körper trägt die schwere Bürde der männlichen Ehre. Im Islam wurde er deshalb verhüllt, im Christentum verteufelt, und in der westlichen Postmoderne hat er sich fast neutralisiert. In islamischen Ländern ist die Frau bis heute „Hüterin der Tradition und Beschützerin der kollektiven Identität“. Sie schafft, wie die türkische Soziologin Nilüfer Göle in ihrem neuen Buch „Republik und Schleier“ schreibt, „zu Hause ein Milieu der Kontinuität“, während der Mann hinaus in die feindliche Moderne darf. Der Kemalismus, die türkische Republik unter Kemal Atatürk, hatte die Frauen, insbesondere die protegierten Töchter modernisierungsbesessener Väter, sichtbar gemacht, sie vom Schleier befreit. Gleichstellung und Sichtbarwerdung der Frau wurde zum Gradmesser der Modernen Gesellschaft.

Darin liegt für Nilüfer Göle der entscheidende Bruch der türkischen Republik mit der islamischen Tradition, die auf Geschlechtertrennung basiert. Denn, so schreibt die Autorin: „Es läßt sich sagen, daß im islamischen System viel mehr Verbote gegen das Zusammensein von Mann und Frau existieren, als eine Beschneidung der Rechte der Frau.“ Das Hervortreten der Frau im öffentlichen und politischen Leben bezeichnet Soziologin Göle als „neue Köperpolitik“. Als Antwort darauf wurde die Frau „zur Fahne des sich politisierenden Islams“.

Nach 1983 gab es in der Türkei ein Comeback der Verschleierung. Studentinnen, Anhängerinnen der islamischen Bewegung, forderten an den Universitäten die Aufhebung des kemalistischen Kopftuchverbots, das schließlich 1991 abgeschafft wurde. Sie forderten offensiv ihr Recht, sich gemäß der islamischen Tradition zu kleiden. Daß diese islamische „Frauenbewegung“ von der Uni ausging, von gebildeten Frauen getragen wurde, sorgte für heftige Aufregung. „Wer studiert“, meint Nilufer Göle, „von dem wird erwartet, daß er auch seine alten Traditionen, seine Identität, seine Religiosität und vor allem den Schleier abgibt.“ Viele sahen darin die militante Bedrohung der kemalistischen Reformen, den radikalen gesellschaftlichen Rückschritt, die Unterordung der kopftuchtragenende Frauen unter die Herrschaft des Mannes, ihre freiwillige Rückkehr in die häusliche Versenkung. Doch die kopftuchtragenden Frauen verhielten sich widersprüchlich. Ihr offensives Auftreten steht im Gegensatz zu der ihnen im Islam zugedachten Rolle weiblicher Selbstbescheidung. Die Soziologin Nilüfer Göle hat sich unter die Frauen der islamischen Bewegung gemischt und Feldforschung betrieben. Anhand von Umfragen, Interviews und Diskussionen versucht sie in ihrem Buch „Republik und Schleier“ deren Beweggründe und vor allem deren Widersprüche aufzuzeigen.

Die Frauen, mit denen Nilüfer Göle sprach, kommen in der Regel aus einfachen Verhältnissen. Aus ländlichen Gebieten, Kleinstädten und Familien mit traditioneller Lebensweise, und sind Vertreterinnen eines offensiven Islam. Gegenüber ihrer Familie sind sie jedoch privilegiert. Sie sind aus deren engem, traditionellen Rahmen herausgetreten, sie leben in der Stadt, sind gebildet. Dabei nutzen diese Studentinnen der Medizin, Physik oder Pharmazie problemlos die Errungenschaften der Republik: das Recht der Frauen auf Bildung und Berufschancen. Sie verlassen die traditionelle Rolle der Frau und definieren sich nicht mehr nur in häuslichen Tätigkeiten.

Obwohl die Mädchen scheinbar einiges mit traditionellen islamischen Kreisen gemeinsam haben, betonen sie gegenüber der Interviewerin, Nilüfer Göle, selbst die grundlegenden Unterschiede: „Was die Leute über den Islam wissen, sind Sitten und Bräuche. Ihr Wissen ist nicht fundiert. Können Sie sich vorstellen, welche Abgründe sich zwischen mir, meinen Eltern und meiner Großmutter mütterlicherseits auftun? Ihr Glaube besteht nur in einem oberflächlichen Nachahmen.“ Sie hingegen wollen zu den Ursprüngen der Gebote vordringen. Als Utopie und Mythos dient ihnen dabei der Ur-Islam, das „Zeitalter der Glückseligkeit“. In einer verwirklichten islamischen Gesellschaft, so suggeriert die Flucht in die Utopie, wird die islamische Frau von selbst frei, so wie es für die Arbeiter im Kommunismus vorgesehen war.

Doch jenseits aller ideologischen Raster und verklärender Utopien zeigen die Gespräche mit den Frauen vor allem diesseitige Probleme und Strategien. Ihre Suche nach Identität und Lebensmuster, jenseits des westlichen Zivilisationsmodells. Denn ihre Kritik an der Moderne ist vor allem die Kritik an der Verwestlichung. „Nach dem Islam ist die Frau die Herrin des Hauses, und der Mann ist verpflichtet, ihre materiellen Bedürfnisse in jeder Hinsicht zu befriedigen. Wenn wir dagegen das Arbeitsleben und die Stellung des Mannes im Westen betrachten, sehen wir, daß die Frauen, wenn sie erst einmal ins Berufsleben eingetreten sind, sich sowohl körperlich als auch seelisch sehr rasch verbrauchen, arbeiten sie doch außer Haus genauso hart wie im Haus.“

Mit Begriffen wie „billige Arbeitskraft“, „Ausnutzung“, „Entfremdung“ übernehmen sie die Begrifflichkeiten marxistischer und feministischer Kritik an der Moderne. Intellektuell kritisieren sie diese Moderne, von der sie praktisch profitieren. Sie besetzen Raum in der Politik, weil es dort eine Vielzahl von Möglicheiten gibt. Sie veröffentlichen in Zeitungen und Magazinen. Sie sind Schriftstellerinnen. So entfalten sie ihre Persönlichkeit innerhalb der islamischen Bewegung. Daß sie durch die konservative Ideologie der Bewegung jederzeit wieder auf Heim und Herd verwiesen werden können, ist ihr grundsätzlicher Widerspruch. Einige geben an, durchaus damit einverstanden zu sein, und ihre Ausbildung ausschließlich zur besseren Erziehung der Kinder nutzen zu wollen. Andere sehen in dieser Reduzierung der Frau ein falsches Islamverständnis. Die Bewegung der islamischen Frauen ist nicht homogen. Sie hat keine eindeutige ideologische Botschaft. Vielmehr: Widersprüche, Ungleichzeitigkeiten und Versatzstücke der kritisierten Moderne.

Nilüfer Göles Buch gelingt es, den grauen Schleier der muslimischen Frauenbewegung in der Türkei etwas zu lüften. Dahinter kommen keine fanatischen Ideologinnen zum Vorschein, sondern Frauen mit eigenem Profil, mit Wünschen, Träumen und Ehrgeiz. Daß sie sich ausgerechnet in der islamischen Bewegung orten, sieht die Soziologin Göle vor allem als Klassenfrage. Mit den modernen, westlich orientierten bourgeoisen Eliten verbindet diese Frauen gar nichts. Sie sind ihnen fremd. Und ihre eigene bescheidene Herkunft hat keinerlei Vision. Sie sind im Aufbruch. Der Schleier soll sie bei diesem Auf- und Ausbruch in die äußere Welt vor den Anfechtungen der Moderne schützen. Er dient als widersprüchliche Orientierungshilfe.

Nilüfer Göle: „Republik und Schleier. Die muslimische Frau in der modernen Türkei". Babel- Verlag Berlin, 1995, 29,80 Mark